Kapitel 3: Wie man Miss Winter brechen konnte

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„Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet,
dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören möchten."
— George Orwell

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In den Augen von
Elijah Colton
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Eve Winter war eine
stürmische,
überemotionale,
gerissene Frau, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

Und wie sie nun vor mir stand, selbstsicher und abgeklärt, konnte man noch ein Adjektiv hinzufügen: determiniert.
Doch Determination konnte man einfach brechen, wenn sie aus etwas so zerbrechlichen rührte wie der naiven Traumwelt einer hübschen, jungen Studentin.

Ich lehnte mich zurück und stütze beide meine Arme auf den Lehnen ab, während ich sie vor mir stehend mit aller Ruhe betrachtete — ihr braunes Haar hochgesteckt in einen Dutt, aus dem die ersten Strähnen schon rausfielen, ein filigranes Gesicht, volle rosige Lippen, auf gar keinen Fall einen Blick auf ihre Figur, und natürlich, das was ich am interessantesten fand, ihre Augen.
Es war als negativ zu beurteilen, wenn ein anderer Mensch so einfach die Emotionen aus einem Blick ablesen konnte wie aus dem ihren.

Ich erwartete, dass sie sich unter meinem starken Blick nervös wand, wie die meisten Studentinnen, doch das Einzige, was sie tat, war ihre filigrane Augenbraue zu heben.
Trotzig war sie also auch noch.

„Miss Winter, es gibt kein Bewerbungsgespräch."

„Oh, Professor Colton, hat Ihnen niemand beigebracht, dass man einen Termin nicht nicht wahrnehmen kann, sondern ihn frühzeitig absagen muss?", fragte sie verblüfft, doch in ihrem Blick blitzte die Retourkutsche auf, mit der sie auf meine tadelnde Frage bei unserem ersten Treffen hindeutete.
Was eine Göre, und wie sie das 'Professor Colton' auch noch so süßlich über ihre Lippen gehen ließ.

Gleichzeitig setzte sie sich auf die gegenüberliegende Seite meines Schreibtischs und überschlug ihre langen Beine.

„Dies ist mein Lebenslauf in ausgedruckter Form, den ich bereits in meiner Bewerbung mitgeschickt habe.", erklärte sie und legte das erste Dokument vor mich.

„Dies ist schonmal eine Tabelle, die zeigt welche Erstsemester eine Hausarbeit in Europäischen Strafrecht und welche eine in Völkerstrafrecht bei Ihnen schreiben möchten."
Ich sah aus dem Augenwinkel auf das neuste Dokument vor mir. Hatte sie ernsthaft eine Excel Tabelle erstellt?

„Und dies sind die neusten Veröffentlichungen des Internationalen Gerichtshofs, der UN, der NATO und Amnesty International über Russland, sowie über den Nahost-Konflikt."

Ich sah von den neusten Unterlagen, 10 Kurztexten mit Quellenangabe an der Hand, zu ihr hoch.

„Da sie es noch in Zukunft in der Vorlesung thematisieren wollten.", erläuterte sie.

Ich war nicht stutzig. Ich war auch nicht schwer von Begriff.

„Miss Winter", ließ ich die drei Silben ihres Namens ebenso süßlich über meine Lippen gehen. Sie war ein unschuldiges Lamb, wenn auch ein wenig kratzbürstig, insolent und unverschämt, sie konnte für dieses Missverständnis nichts.

„Nur weil ich ihren Namen kannte, heißt das nicht, dass ich Ihnen die Einladung hab zukommen lassen. Das war ein Fehler des Sekretariats.
Ich nehme keine Erstsemester an.", zog ich hart den Schlussstrich unter dieser lächerlichen Zeitverschwendung.

„Wenn Sie meinen Lebenslauf lesen, werden Sie es.", schoss sie mit klarer Stimme zurück und sah nicht weg. Diese verdammten Augen.

Ich schnaubte belustigt, auch wenn der Rest meiner Mimik kalt und unnachgiebig blieb.
„Wie konnte ich das bloß vergessen! Das habe ich. Praktikum in einer Rechtskanzlei, Aufenthalt in Brüssel als Juniorkorrespondentin im EU Parlament; die Liste ging noch weiter, ich erinnere mich."

Ich schlug meine Hände zusammen, stützte mich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab und lehnte mich näher zu ihr, um folgendes in ihren hübschen Kopf reinzubekommen:
„Trotz ihres Engagements, ihrer trotzigen Unnachgiebigkeit und ihrer Vehemenz, bleibt die Entscheidung stehen: Es gab noch nie und gibt auch nun keine Stelle für Erstsemester."

Ich lehnte mich zurück und drehte meinen Füller in der Hand. „Wenn Sie diese Absage zum zweiten Mal nicht akzeptieren werden oder einfach nur schwer von Begriff sind, sollten sie nicht nur mein Büro, sondern sofort die Universität verlassen. Anmaßendes Verhalten hat hier keinen Platz, Miss Winter.", zetterte ich kalt hinunter, sodass man meine laute Stimme sicherlich noch vor der Tür vernehmen konnte.

Ich stand auf, schloss meinen Füller und zog mein Jacket über meine Schultern, um mich bereitzumachen, mein Büro zu verlassen. Ich sah auf meine silberne Armbanduhr. Ich hatte gleich noch einen Anruf nach Oxford zu tätigen.

Mit mir zusammen stand auch Miss Winter auf und ich dankte dem Herrn. Ich hätte es nicht noch länger mit ihr ausgehalten. Ihre Art war so... emotional. So ungestüm. So leidenschaftlich.

„Das stimmt nicht."

Mein Blick hob sich entnervt von meiner Armbanduhr an, während mein markanter Kiefer mahlte.
Sie legte es wirklich darauf an, aufgrund ihres Verhaltens vor den Ausschuss gestellt zu werden. Wie gerne ich ihr vor anderen Dozenten den Mund verbieten würde. Wie ich es auskosten würde.
Oder besser, ich sollte ihr Benehmen unter vier Augen hinter geschlossener Tür beibringen.

„In Ihrer Professur in Oxford haben sie Erstsemestern die Chance gegeben, für sie zu arbeiten."
Ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, sondern sachlich, klar.
„Wenn ich mich nicht irre, verteidigten sie es in ihrer Stellungnahme im öffentlichen Brief von Oxford als eine Förderung,
sowohl akademisch, als auch finanziell für die jüngsten Studenten."

Miss Winter schling sich ihre Tasche um ihre Schulter. Sie redete von dem Vorfall in Oxford nicht anmaßend, dass ihr nun nicht das gleiche Angebot gemacht wurde, sondern...
fasziniert.

Eine Möglichkeit, dass ebenso jüngere Fachsemester anfangen können, finanziell unabhängig zu leben und so früh wie möglich in eine rechtswissenschaftliche Karriere starten mögen.", zitierte sie meine Worte haargenau aus dem öffentlichen Brief von vor zwei Jahren mit einem Funkeln in ihren Augen.

„Deswegen habe ich mich auf die Stellenausschreibung beworben, nicht weil ich denke, dass ich so gut wäre wie ein Student aus dem dritten oder vierten Semester" — sie lachte heiser — „oder weil ich mir etwas darauf eingebildet hätte, dass Sie so etwas oberflächliches wie meinen Namen noch kannten.
Ich fand es fesselnd. Eine Innovation für das System der Hochschule und eine Veränderung, die die finanziellen Hintergründe von Studenten nicht aufheben, aber unterstützen könnte.", beschrieb sie, mit einem in Gedanken verlorenen Lächeln, ehe sie ihren abgeschweiften Blick von der Fensterfront wieder zu mir gehen ließ.

Ihre zuvor funkelnden Augen klärten ab, als mein Gesicht in ihr Sichtfeld kam.

„Ich sehe, dass sich ihr Standpunkt oder ihre Möglichkeiten geändert haben. Dankeschön für Ihre Zeit. Guten Tag, Mr. Colton.", sagte sie monoton, mit einem kleinen Schlucken, das ich an ihrem zarten Hals beobachten konnte.

Schnellstens drängte sie sich an mir vorbei und ich hörte nur noch ihre hallenden Absätze sich auf dem Korridor entfernen, während ich mit gekrausten Augenbrauen inmitten meines Büros stehen blieb.

Eve Winter.
Dieser Name. Diese Frau.
Eine lechzende Neugierde wurde soeben in mir geweckt.

Im Schatten des RechtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt