Samantha

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"Geh mir aus dem Weg, du Kerl", keifte Larissa verächtlich und stieß mich zu Seite. Ihr hirnloses Gefolge hielt bei Fuß und sie gingen an mir vorbei. Die zwei Mädchen lachten hämisch, während sie ihrer Anführerin lobend beistimmten. Dann verschwanden sie um die Ecke des Korridors. Es war große Pause und die Schülermasse drängte sich Richtung Ausgang und Schulhof. Ich versuchte in diesen Pausen immer, mich auf dem Klo zu verstecken oder in der Bibliothek. Manchmal ließ mich die nette Bibliothekarin bei ihr bleiben, aber manchmal wurde ich auch von irgendeinem Lehrer nach draußen geschickt. Es war eigentlich nicht gestattet, sich während der großen Pause im Schulgebäude aufzuhalten, es sei denn, man befand sich in der Cafeteria. Ich zog mich also aufs nächstgelegene Klo zurück.

Ich war nicht sehr beliebt an meiner Schule. Ich war anders gesagt ein absoluter Außenseiter. Die drei Mädchen waren alle in meinem Jahrgang und schikanierten mich sooft es ihnen möglich war. Mein gesamter Jahrgang entsprach einer Katastrophe. Manche zogen mich auf, indem sie mich "Junge" nannten oder "Sam" anstatt "Samantha". Das lag wohl daran, dass ich mich nicht so mädchenhaft anzog. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil ich nicht konnte. Ich fühlte mich unwohl in Kleidern oder Röcken oder irgendetwas eng Anliegenden. Ich hatte dann das Gefühl, dass zu viel Aufmerksamkeit auf mir läge, dass alle mich anguckten. Dabei sah es jetzt auch nicht gerade besser aus. Die ganzen Tussen, die meinten mich damit aufziehen zu müssen, dass ich weite Jeans und einfarbige Shirts trug. Man sollte meinen, dass sie etwas Besseres zu tun haben. Und man sollte auch meinen, dass ich wusste mich gegen diese Weiber zu wehren, aber das tat ich nicht. In den entscheidenden Momenten wusste ich nie, was zu sagen war. Oder ich wusste es, aber dafür nicht, wie man es in Worte fasst. Diese Mädchen waren aber nicht mein einziges Problem. Sie regierten sozusagen den gesamten Jahrgang. Alle Jungs standen auf sie und alle anderen Mädchen wagten es nicht, öffentlich gegen sie zu sprechen. Übliche High-School-Geschichten. Obwohl, in üblichen High-School-Geschichten hat der Außenseiter noch zumindest einen treuen Gefährten, auf den er oder sie zählen konnte und der genauso unsozial war wie der Außenseiter selbst. In meinem Fall war das leider nicht so. Ich war auf mich allein gestellt, wie die Maus im Löwenkäfig. Ich versuchte einfach nur lebend aus diesem Zirkus herauszukommen. Und es war schließlich nur noch ein Jahr! Ich war allerdings auch erst seit dem letzten Schuljahr hier. Ich bin hierher gezogen. Vom Land in die Stadt. Meine Sozialphobie und die schlabbrigen Klamotten hatte ich natürlich mit im Gepäck, als ich hierher kam. Meine Mom hat hier eine Arbeit gefunden und allein das macht mich glücklich- dass sie es ist! Aber auf dem Land hat es mir trotzdem besser gefallen. Ich habe mich hiermit allerdings irgendwie abgefunden. Wenn ich erst einmal meinen Abschluss in der Tasche habe, dachte ich, könnte ich direkt wieder aufs Land und dort als Hofwirtin bei meinem Onkel oder bei meinem anderen Onkel auf seinem Bauernhof arbeiten. Es gab viel zu tun auf dem Land! Und obwohl ich dafür keinen Abschluss bräuchte, will meine Mom natürlich trotzdem, dass ich einen habe, denn sie ist der Meinung, dass ich sobald das der Fall wäre, sowieso viel lieber studieren wollen würde, als Pferdeställe auszumisten oder Ziegen zu melken oder was auch immer. Ich werde sie schon noch vom Gegenteil überzeugen. Einen Dad habe ich nicht, meine Mom hat sich von ihm getrennt, als ich ein Baby war und ich habe ihn niemals kennengelernt und er kam auch nie wirklich zur Sprache. Ich weiß gar nicht, ob ich das gut oder schlecht finde. Vielleicht habe ich unterbewusst ein Problem damit, keinen Vater zu haben, aber an sich fehlt er mir nicht. Ich habe es ja auch nie anders kennengelernt. Wenn ich bei Freunden zu Besuch war, früher auf dem Land, waren die Väter entweder arbeiten oder sie saßen regungslos auf der Couch und nickten einem zur Begrüßung stumm zu. Mehr Erfahrungen mit Vätern hatte ich nicht wirklich.

Ich verzog mich in die erste Kabine, schloss die Tür ab und setzte mich auf den Klodeckel. Dann holte ich meinen Stundenplan aus der Tasche. Es war die zweite richtige Schulwoche in diesem Jahr und ich zählte innerlich bereits die Zeit bis es endlich vorbei war. "Musik", las ich auf dem Zettel. Bisher hatte ich dieses Fach noch nicht dieses Jahr, da es letzte Woche gleich zweimal ausfiel. Ich freute mich beinahe schon, da ich das Fach in der Regel mochte. Es kam natürlich wie immer, leider, auch auf den Lehrer an. Ich steckte den Zettel wieder in meinen Rucksack und hing ihn um meine Schulter, während ich die Kabine verließ. Ich schaute mich im Wandspiegel an. Ich fuhr mit einer Hand durch meine kurzen braunen Haare. Meine Haut wirkte blass wie eigentlich immer und meine großen blassgrünen Augen wirkten heute gar nicht so wach, eher ziemlich müde. Ich war auch ziemlich müde. Mit einem demonstrativen Gähnen und einem typischen 'Egal, am Gesicht kann ich eh nix mehr ändern'-Schulterzucken und -Augendrehen verließ ich die Toilette und stand nun im leeren Korridor.

Sam's TownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt