»Denken Sie, dass es sinnvoll ist, wenn Jeremias die Klasse noch einmal wiederholt?« Langsam schiebe ich alle Unterlagen wieder zusammen, die ich den Eltern gerade gezeigt habe. »Nein, das auf keinen Fall. Es wäre nicht gut, ihn jetzt zusätzlich zu seinen Schwierigkeiten auch noch in eine neue Umgebung zu bringen. Er fühlt sich sehr wohl in der Klasse. Ich biete dienstags und donnerstags eine Sternstunde an, da kommen die Kinder etwas früher und ich habe Zeit, mit ihnen ein wenig Zeit genauer auf ihre Schwierigkeiten einzugehen. Es sind meistens zwei bis drei Kinder dabei. Das hilft häufig schon.«
Die Mutter von Jeremias nickt erleichtert, während der Vater unzufrieden die Arme vor der Brust verschränkt. »Nachsitzen? Muss das sein? Ich meine, das verwächst sich doch wieder, man kann ...« Verwächst sich wieder? Ich muss mir ein Grinsen verkneifen und sehe dem etwas enttäuscht wirkenden Mann in die Augen. »Das ist kein Nachsitzen. Manchen Kindern fällt es einfach schwerer, mitzukommen und das besonders in solch einer großen Klasse. Bei den Sternstunden haben sie die Möglichkeit, dass ich mir morgens noch eine halbe Stunde für sie Zeit nehme. Ich bin mir sicher, dass es Jeremiah helfen würde, sehen Sie das bitte nicht als Strafe und vermitteln Sie es Ihrem Sohn auch nicht so, denn so ist es nicht.«
Zum Glück hat die Mutter mich verstanden und atmet erleichtert aus. »Nein danke, das nehmen wir gerne an. Vielen Dank für das Gespräch.« Die beiden verabschieden sich und somit habe ich auch das letzte Elterngespräch hinter mich gebracht. Heute war ein langer Tag. Ich musste früh in der Schule sein, hatte dann aber nur zwei Stunden. Zu Hause bin ich dann eine Weile mit Nala joggen gewesen und habe mit ihr im Garten gearbeitet, bevor ich für eine Stunde Unterricht und den Elterngesprächen wieder in die Schule musste.
Jetzt habe ich aber Feierabend.
Heute haben fast alle Lehrer Elterngespräche, meine gehen meistens länger, da meine Kinder noch keine Noten bekommen, erst ab dem nächsten Jahr, doch während ich aus dem Schulgebäude laufe, höre ich trotzdem noch hinter einigen Türen Gespräche.
Auf dem Weg zum Parkplatz laufe ich am Footballfeld vorbei und höre, dass dort gerade trainiert wird. Seit gestern geht mir das Aufeinandertreffen mit Tatum nicht aus dem Kopf. Es war nicht richtig, ihm nicht zu sagen, wer ich bin. Es hätte mich nicht so treffen sollen, dass er mich nicht erkennt, nicht nach all den Jahren, die dazwischenliegen, mein Verhalten ist kindisch.
Bisher habe ich nie groß auf die Footballmannschaft unserer Highschool geachtet, selbst als ich in der Highschool war nicht, Tatum habe ich nur ständig gesehen, weil ich mit Adriana so gut befreundet war.
Statt einfach zum Parkplatz zu gehen, gehe ich ein paar Schritte näher zum Footballfeld, sodass ich sehen kann, wer alles dabei ist. Tatsächlich findet mein Blick augenblicklich Tatum. Er steht abseits von den anderen Spielern und dem Coach und trainiert einige Spielzüge mit drei Spielern. Heute trägt er das Trainingsset, was auch der andere Coach trägt. Ihn nun wieder so zu sehen, erinnert mich automatisch an früher, als er in diesen Farben trainiert hat. Seine Freunde und er haben die Klamotten auch immer während der Schulzeit getragen, sie waren so stolz, Teil dieses Teams zu sein. Damals war unsere Highschool-Mannschaft zwei Jahre hintereinander Titelverteidiger.
Tatum lacht auf. Eine Weile habe ich mir früher immer gesagt, ich schwärme einfach nur für den älteren Bruder meiner Freundin, doch irgendwann habe ich dann erkannt, dass ich nicht nur für ihn schwärme. Ich war schwer verliebt in ihn. Ich wollte das nie zulassen, doch genau wie jetzt habe ich jedes Mal, wenn ich ihn so lachen gesehen habe, Herzklopfen bekommen. Er ist ein wunderschöner Mann. Seine goldbraune Haut glänzt in der Sonne, mittlerweile hat er einige Tattoos an den Armen, mir ist gestern bereits eine längliche Narbe an seiner Wange aufgefallen, sie ist hell und dünn, doch man erkennt sie.
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Taking the second Chance
RomanceTaking the Second Chance - Kämpfe für die Liebe Melodie Harper lebt ein ruhiges und zurückgezogenes Leben als Grundschullehrerin in ihrer Heimatstadt Provincetown in Massachusetts. Sie hatte sich auf einen entspannten Sommer mit ihrer besten Freundi...