Prolog

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Der dichte Nebel hing schwer über den dunklen Straßen, so dicht, dass die Glaslaternen mit ihren spärlich glimmenden Gaskegeln kaum mehr als geisterhafte Schemen auf das Kopfsteinpflaster warfen. Die junge Frau zog ihren Mantel enger um sich, als sie durch die schmalen Gassen eilte. Der Stoff fühlte sich unter ihren frierenden Gliedern kratzig und etwas feucht an. Obwohl sie sich in der Nähe des Hauptplatzes befand, wo die Bauersleute tagsüber nahezu täglich ihre Ernte und die Frauen ihre gewebten Erzeugnisse zu einem sündhaft hohen Preis an die wohlhabenderen Bewohner der Kleinstadt verkauften und sich gelegentlich auch der Pöbel herumtrieb, waren die Straßen wenn es zu dämmern begann menschenleer. Geradezu schien es, als hätten sie sich in ihre schützenden Unterkünfte zurückgezogen, um sich vor den Geistern der Dunkelheit zu verstecken.

Die Nacht war still, nur das unheimliche Flüstern des Windes in den kahlen Bäumen, an denen sie vorbei eilte, brach die Stille.

Die junge Frau war auf dem Weg zu den Räumlichkeiten, in denen der Doktor seine Arbeiten verrichtete. Obwohl sie schon mehrere leblose Körper gesehen hatte, hatte sie noch nie eine Leiche zu Gesicht bekommen, die so entstellt und zutiefst verstörend war.

Wie die anderen vor ihr war die Leiche vom Waldrad in der Nähe eines kleinen Gewässers gefunden worden, entstellt und blutleer, als hätte etwas Unnatürliches an ihr gezehrt. Die junge Frau war skeptisch, doch die Gerüchte auf den Straßen ließen ihr keine Ruhe. In der Stadt erzählt man sich immer wieder alte Legenden über die Schattenwesen - finstere Wesen, die angeblich aus einer anderen Dimension stammen. Diese Kreaturen scheinen von der Angst der Menschen angezogen zu werden und leben in den Schatten des Nebels. Diese dunklen Kreaturen folgten den düsteren Nebelschaden, die in dieser Gegend nachts von den umliegenden Mooren über das Land kriechten. Immer dann, wenn der Mond vollständig gesättigt war und am höchsten stand und die Nächte zunehmend kälter wurden.

Der heutige Abend war einer jener Nächte.

Das Mondlicht fiel in die Gassen, hinter deren Mauern sich unzählige Geheimnisse verbargen. Die junge Frau eilte zu der Ecke des Hauses, die sie kannte und wo sie sich  in Sicherheit wiegen konnte. Eine junge Dame sollte in der Dunkelheit nicht allein durch die Straßen schleichen. Und schon gar nicht die Tochter des Todes, die in der Stadt als diese verachtet wurde. Der wallende Stoff ihres Kleides wurde vom Wind getragen, und sie krallte sich in die ohnehin schon abgetragene Baumwollfasern, um ihn zu stützen. Etliche Strähnen ihres leicht rötlichen Haares hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und versperrten ihr die Sicht.

An der schweren Holztür angekommen, warf sie einen letzten Blick die Straßen hinunter, deren nasses Steinpflaster im Mondlicht schimmerte, und steckte den Schlüssel mit zitternden Fingern in das Schloss. Knarrend öffnete sich die Tür, und sie schlüpfte hinein. Sie wusste, dass sie nicht hier sein sollte, aber sie hatte etwas übersehen, und es wollte sie einfach nicht gehen lassen, bis sie herausfand, was es war.

Als sie das Haus betrat, begriff sie sogleich, dass etwas nicht stimmte. Die Tür stand einen Spalt offen. Iona hielt inne, ihr Atem bildete in der Kälte kleine Wölkchen, obwohl es innerhalb des alten Gemäuers wesentlich wärmer war als draußen unter dem klaren Nachthimmel. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, aber sie unterdrückte ihre Furcht. Die Furcht war nur ein Symptom des Körpers, das sein Unbehagen ausdrückte, also nicht wirklich real, aber dennoch nicht einfach zu ignorieren. Vorsichtig stieß sie die Tür auf und trat ein.

Im schwachen Licht der Öllampe sah sie den bleichen Körper auf dem Tisch, aber dieser war nicht allein. Eine hochgewachsene Gestalt stand regungslos über den Leichnam gebeugt und war in einen dunklen Mantel gehüllt. Die Frau vernahm das leise, fast animalische Atmen. Als sich die Gestalt langsam zu ihr umdrehte, blitzte ein unnatürliches Glitzern in ihren Augen auf, das Iona erstarren ließ. Ein humanoider Schatten, scheinbar aus der Dunkelheit selbst gemacht, mit Augen, die wie kaltes Feuer brannten. Und da waren sie wieder, diese Signale, die ihren Körper beanspruchten.

„Du solltest nicht hier sein", knurrte die Kreatur mit einer Stimme, die so kratzig und bedrohlich klang, dass sie tief in ihren Knochen widerhallte.

Iona spürte, dass sie nicht auf etwas Menschliches gestoßen war.

Die Geliebte des SchattenwächtersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt