Prolog

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Rithymna kam nicht allein. In ihren Armen hielt sie vorsichtig ein in seidene Tücher gewickeltes Bündel, das perfekt in ihre Armmulden zu passen schien. In ihren eisblauen Augen schimmerten gleichsam Freude, tiefe Traurigkeit – und namenlose Angst. Sie wusste, dass sie für ihre Taten würde bezahlen müssen, und doch hatte sie den Mut gefunden, diesen einen letzten Schritt zu tun.

Sie bereute es aber nicht. Sie würde selbst ihr Leben geben.

Er hatte sie bereits erwartet, verborgen in den Nebeln, die durch diesen vergessenen Ort jenseits von Raum und Zeit trieben. Manchmal bildeten sie merkwürdige Konturen, Zerrbilder anderer Welten und Zeiten, manchmal reckten sie sich nach ihm, als wollten sie ihn greifen, ihn fortlocken, tiefer hinein in die Dunkelheit, die aus einer seltsamen Gegebenheit dennoch mit Licht gefüllt war, welches von überall und nirgends zu kommen schien und seine goldenen Augen zum Leuchten brachte. Nun trat er auf sie zu und in ihren Augen flammte zusammen mit ihrer Liebe alle Verzweiflung auf, die damit verbunden war.

Denn ihre Völker waren von verdorbenen unsterblichen Mächten zu ewiger Feindschaft verdammt, und alles, was vielleicht einmal davor gewesen sein mochte, war verloren in den Nebeln der Zeit und den Stoffen der Legenden.

Ihre Verzweiflung wurde seine eigene, als er die Schrecken auf ihrem Gesicht las. Ohne zu zögern schloss er seine einzige wahre Geliebte in die Arme, in seiner Brust tobten das Verlangen, sie für immer zu beschützen, und das nagende Wissen, dass ihm dies nicht möglich war. Auch wenn dieser geheimnisvolle Schleier die vielleicht einzige Ebene war, in der SIE sie nicht berühren konnten, so war es ihnen doch nicht möglich zu bleiben, wollten sie nicht in der endlosen Leere zwischen den Welten verloren gehen.

„Weißt du noch", murmelte sie, ihre Stimme bebte, „als du mich nach dem Schicksal gefragt hattest?"

Für sie lag es schon einige Zeit zurück, doch für ihn nicht länger als einen Wimpernschlag. Die Erinnerung war glasklar.

„Du hast mich verspottet. Du hast mich gefragt, wie es etwas geben kann, das alles vorherbestimmt. Ich konnte dir diese Frage nicht beantworten... Kann es jetzt nicht einmal."

„Ich glaube, manche Antworten sind dazu da, niemals gegeben zu sein. Du hattest Recht – es gibt Mächte, die so unermesslich sind, dass wir sie mit unserem sterblichen Verstand niemals werden begreifen können. Nicht einmal, wenn wir eine Ewigkeit leben. Das Schicksal gehört wohl dazu."

Sie löste sich von ihm, auch wenn sie es sichtlich widerwillig tat. Dabei hielt sie das Bündel fest umschlungen.

„Ich glaube", fuhr sie fort, „dass es vielleicht wirklich das Schicksal war, das uns zusammenführte, so lächerlich das auch aus dem Mund einer Elfe klingen mag. Sie verbinden uns auf eine Art, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Vielleicht haben jene vergessenen Mächte einzig und allein hierauf hingearbeitet. Es treibt mich in den Wahnsinn zu wissen, dass...", sie schluckte, „dass unsere Tochter in Zukunft niemals eine wirkliche Wahl haben wird, ihren Weg selbst zu wählen, denn die Götter – zumindest die meines Volkes – wollen sie vernichtet sehen. Mir gelang gerade eben die Flucht..."

Die Worte waren Paukenschläge. Es war nicht allein die Tatsache, dass er unverhofft erneut Vater geworden war, noch dazu von einem Kind, dessen Einzigartigkeit es ihm niemals möglich machen würde, wie alle anderen Kinder aufzuwachsen. Er hatte die Schrecken nicht gänzlich benennen können, bis jetzt. Nun konnte er in ihrem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch, ihre Angst traf ihn mit der Wucht einer gewaltigen Flutwelle.

Aber er las auch ihre Hoffnung, von der er sich nicht sicher war, ob er sie wirklich würde erfüllen können.

„Bitte zeig mir unsere Kleine", flüsterte er.

Shattered World - Schattenlicht [LESEPROBE]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt