Kapitel 1

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Es war eine kalte, neblige Nacht, als Mark das alte Landhaus tief im Wald erreichte. Das Haus gehörte einst seiner verstorbenen Großtante, von der man im Dorf immer wieder unheimliche Geschichten erzählte. Seit ihrer mysteriösen Todesnacht war niemand mehr in dem Haus gewesen. Doch Mark, ein Skeptiker und Realist, hielt nichts von Geistergeschichten. Er war fest entschlossen, das Haus zu renovieren und es vielleicht zu verkaufen.

Das Haus stand still da, eingehüllt in Schatten. Die Fenster waren dunkel, als ob sie die Geschehnisse, die sich darin abgespielt hatten, für immer verschließen wollten. Mit einer alten, rostigen Schlüssel drehte Mark das Schloss auf und betrat das Haus. Der Geruch von Staub und Verfall stieg ihm sofort in die Nase.

Innen herrschte eine bedrückende Stille. Das Mobiliar war alt, aber unberührt, als ob die Zeit hier stehengeblieben war. Mark ging durch die Räume, prüfte die Wände und die Möbel und machte Notizen für die Renovierung. Doch als er das Wohnzimmer betrat, fiel ihm ein alter Spiegel auf, der an der gegenüberliegenden Wand hing. Der Rahmen war aus schwarzem Holz, kunstvoll geschnitzt, aber der Spiegel selbst wirkte irgendwie falsch – die Reflexion schien zu flimmern, als ob etwas in den Tiefen des Glases lebte.

Mark trat näher und betrachtete sein eigenes Spiegelbild. Für einen Moment glaubte er, dass die Gestalt im Spiegel nicht ganz mit seiner übereinstimmte. Er schüttelte den Kopf, schob den Gedanken beiseite und drehte sich um, um weiterzugehen. Doch als er den Raum verlassen wollte, hörte er ein leises Kratzen. Er hielt inne. Das Geräusch kam aus dem Spiegel.

Langsam, fast widerwillig, drehte er sich um. Der Spiegel hatte sich verändert. Das Glas war jetzt undurchsichtig, wie ein schwarzer Teich, der sich vor seinen Augen kräuselte. Plötzlich durchbrach eine Hand die Oberfläche des Spiegels, als wäre es Wasser. Eine dünne, knochige Hand mit langen, scharfen Fingernägeln.

Mark wich zurück, sein Herz hämmerte in seiner Brust. „Das ist unmöglich", murmelte er, doch sein Körper war starr vor Angst. Die Hand griff nach dem Rahmen des Spiegels, und langsam, fast genüsslich, zog sich eine Gestalt aus dem Glas.

Es war eine Frau – oder das, was von ihr übrig war. Ihre Haut war blass, fast durchscheinend, und hing schlaff von ihrem Körper. Ihre Augen waren tief in ihre Höhlen gesunken, und ihr Mund war zu einem grausamen, zahnlosen Grinsen verzerrt. Sie schwebte einen Moment lang vor dem Spiegel, ihr Körper wie eine zähe Flüssigkeit, die sich aus einer anderen Welt drängte.

Mark wollte schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Die Kreatur bewegte sich langsam auf ihn zu, ihre Knochen knackten bei jedem Schritt. Ihre toten Augen fixierten ihn, und plötzlich spürte Mark einen eisigen Hauch in seinem Nacken.

Dann hörte er es – ein Flüstern. „Du gehörst mir."

Er versuchte, sich zu bewegen, aber seine Beine fühlten sich an, als wären sie im Boden verwurzelt. Das Flüstern wurde lauter, dichter, als ob es aus allen Ecken des Hauses kam. Die Wände schienen zu atmen, und der Raum um ihn herum begann sich zu drehen.

Mit einem letzten verzweifelten Ruck gelang es Mark, sich aus seiner Starre zu befreien, und er stürzte aus dem Haus. Hinter ihm hörte er das widerliche Kratzen der Kreatur, die ihm folgte, ihre Klauen über den Boden ziehend. Draußen schlug er die Tür hinter sich zu und rannte in den Wald, ohne zurückzublicken.

Die ganze Nacht irrte er umher, die düsteren Schatten des Waldes schienen ihn zu verfolgen. Als der Morgen graute, fand ihn ein Wanderer – blass, zitternd und kaum in der Lage zu sprechen. Von dem Haus und der Kreatur erzählte er niemandem. Doch in den tiefen Nächten, wenn er allein war, hörte Mark immer noch das leise Kratzen und das Flüstern, das ihm versprach, dass sie eines Tages zurückkommen würde.

Der grausame SpiegelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt