Kapitel 2

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Kapitel 2: Das Erwachen der Dunkelheit

Es waren zwei Wochen vergangen, seit Clara verschwunden war. Das Dorf war in Aufruhr, die Bewohner durchsuchten den Wald Tag und Nacht, aber das Mädchen blieb unauffindbar. Der Schattenhund, der immer wieder am Rand des Waldes gesehen wurde, war ebenfalls spurlos verschwunden. Die Stille, die über dem Dorf lag, war schwer, wie ein dunkler Vorbote dessen, was noch kommen sollte.

Claras Mutter, Miriam, war in tiefer Trauer versunken. Sie saß oft am Fenster und starrte in den Wald, als erwarte sie, dass ihre Tochter jeden Moment wieder auftauchen würde. Doch die Nächte wurden länger und dunkler, und mit jeder verstrichenen Stunde schwand die Hoffnung.

Eines Abends, als der Nebel sich über die Felder legte und das Dorf in gespenstische Stille hüllte, hörte Miriam ein leises Klopfen an der Tür. Es war kein starkes, forderndes Klopfen, sondern ein sanftes, fast vorsichtiges Klopfen, als würde derjenige vor der Tür nicht sicher sein, ob er hereingelassen werden wollte.

Miriam öffnete zögernd die Tür und keuchte. Vor ihr stand Clara. Ihre Tochter, die sie für verloren gehalten hatte, war zurückgekehrt. Aber etwas stimmte nicht. Clara sah blass aus, ihre Augen schienen größer und dunkler zu sein, als Miriam sie in Erinnerung hatte. Und dann war da dieses Lächeln – ein merkwürdiges, zu breites Grinsen, das ihr sofort Unbehagen bereitete.

„Clara!" Miriam schloss sie fest in ihre Arme, aber Clara erwiderte die Umarmung nicht. Sie stand steif da, ihre Hände schlaff an ihrer Seite, und das Lächeln wich nicht von ihrem Gesicht. Langsam ließ Miriam ihre Tochter los und trat einen Schritt zurück.

„Wo warst du? Was ist passiert?" Miriams Stimme zitterte.

„Ich war bei meinen neuen Freunden, Mama", antwortete Clara in einem Ton, der fast zu ruhig und gleichgültig war. „Sie haben mir gezeigt, wie man keine Angst mehr haben muss. Es ist besser so."

Miriam spürte, wie ein kalter Schauder ihren Rücken hinab lief. „Wovon sprichst du, Clara? Wer sind deine Freunde?"

Clara legte den Kopf schief und sah ihre Mutter mit diesen merkwürdig leeren Augen an. „Du wirst sie bald kennenlernen."

In der folgenden Nacht verschlimmerte sich das Unheimliche. Clara war im Haus, bewegte sich jedoch kaum. Sie saß still in der Ecke ihres Zimmers, und wenn Miriam sie besuchte, blickte Clara sie nur stumm an, ohne auch nur einen Hauch von Emotion zu zeigen. Es war, als wäre sie nur eine Hülle ihrer einst fröhlichen Tochter.

Dann begannen die Dorfbewohner erneut von seltsamen Erscheinungen zu berichten. Manche sagten, sie hätten den Schattenhund wieder gesehen, wie er am Rand des Waldes lauerte. Andere behaupteten, sie hätten Kinderstimmen gehört, die nachts durch die Gassen hallten, obwohl keine Kinder unterwegs waren. Die Tiere des Dorfes verhielten sich nervös, Hunde knurrten unaufhörlich, und Katzen fauchten scheinbar ins Leere.

Eines Nachts, als das Heulen des Windes über das Dorf fegte, hörte Miriam erneut Geräusche – diesmal aus Claras Zimmer. Ein leises Murmeln, als ob Clara mit jemandem sprach. Als Miriam vorsichtig die Tür öffnete, sah sie, wie Clara am Fenster saß und in die Dunkelheit starrte.

„Clara?" Miriams Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Clara drehte sich langsam um, und das Lächeln auf ihrem Gesicht ließ Miriams Blut in den Adern gefrieren. „Sie kommen, Mama", sagte Clara sanft. „Sie wollen, dass du dich uns anschließt."

Miriam war verwirrt und zutiefst beunruhigt. „Wer kommt? Clara, du machst mir Angst."

Clara stand auf, und in dem schwachen Mondlicht, das durch das Fenster fiel, schien ihr Schatten sich auf unnatürliche Weise zu verändern. Er streckte sich, wurde länger, und für einen Moment schien es, als würde sich hinter ihr die Gestalt des Schattenhundes abzeichnen, die roten Augen aus der Dunkelheit blitzen.

„Sie sind schon hier", flüsterte Clara, als ihre Augen plötzlich rot aufglühten.

Miriam wich entsetzt zurück und rannte aus dem Zimmer. Ihr Herz raste, und in Panik verriegelte sie die Haustür. Sie spürte, dass etwas Dunkles, etwas Fremdes in ihrem Haus war – etwas, das nicht ihre Tochter war. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass sie sich in Sicherheit bringen musste.

Plötzlich war da ein leises Klopfen an der Tür. Es war nicht das freundliche, vorsichtige Klopfen, das sie bei Claras Rückkehr gehört hatte. Dieses Mal war es bedrohlich, scharf und ungeduldig. Das Klopfen verstummte, doch kurz darauf hörte sie eine flüsternde Stimme.

„Lass uns rein, Miriam... Wir gehören jetzt zu deiner Tochter."

Mit zitternden Händen griff Miriam nach einem Küchenmesser und stellte sich vor die Tür. Ihre Gedanken rasten, als das Klopfen erneut begann, lauter und bedrohlicher.

Dann kam die Stille. Miriam hielt den Atem an, lauschte und wartete. Doch nichts geschah. Sie hoffte für einen Moment, dass es nur ein böser Traum war, dass die Dunkelheit wieder weichen würde. Doch plötzlich durchdrang ein scharfes Kratzen die Stille, gefolgt von einem tiefen, unheimlichen Knurren, das direkt hinter ihr erklang.

Langsam drehte sie sich um – und da stand der Schattenhund, direkt im Flur. Seine glühenden Augen fixierten sie, und sein Maul öffnete sich in einem breiten, unmenschlichen Grinsen.

„Es ist zu spät", flüsterte Clara, die hinter dem Hund auftauchte, ihr Lächeln jetzt so kalt und fremd wie das Wesen, das sie begleitet hatte.

Die Dunkelheit, die aus dem Tier zu strömen schien, erfüllte das Haus, kroch in jeden Winkel, jeden Spalt. Und Miriam wusste, dass sie der Dunkelheit nicht entkommen konnte. Nicht mehr.

Das Erwachen der Dunkelheit hatte begonnen.

Der grausame SpiegelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt