Kapitel 3: Kleiderwechsel

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Das Leben ist ein Spiel. Allein du entscheidest, ob jemand deine Figur zum Narren hält oder du es selbst bist, der sie verschiebt. Werde zum Spielmacher, nicht zur Figur. Das hielt ich mir in meinem sechsjährigen Ich immer wieder vor und saß an dem viel zu großen Schreibtisch in meinem Zimmer.

Auf dem Blatt vor mir standen genau fünf Zahlen mit kurzen Sätzen dahinter.

1. Tötungen der Mitbewerber sind untersagt.

2. Fähigkeiten werden unter Verschluss gehalten.

3. Hilfeleistung ist verboten.

4. Jeder Proband muss in Einzelgesprächen ausschließlich die Wahrheit sagen.

5. Bestrafung folgt nur durch plausible Beweise.

Diese Regeln waren der Faden, an dem unsere Leben sich die nächsten Jahre langhangeln würden. Die erste war auch gleichzeitig die nichtigste. Sowie die letzte Regel, die schlimmste. Es wagte niemand sie zu brechen, zumindest bis ich sechzehnwurde.

Balthasar. Sein Name versetzte mir eine Gänsehaut und meine kurzen Finger strichen mir über den Hals. Dazu schlich sich ein stechender Schmerz in die Seite. Ich konnte seine Hände immer noch fühlen, sowie sein Atem auf mir. Er war es, der mich getötet hatte. In der Nacht des Balls auf dem wir dem König das erste Mal vorgestellt wurden. Er trieb mich in den hinteren Garten des Varnell Anwesens und kauerte über mir. Hände legten sich eng um meinen Hals und drückten zu. Gleichzeitig bohrte sich Etwas in meinen Bauch und erschuf eine eisige Kälte, die sich langsam ausbreitete. Er war das eine Rätzel, dass ich nie gelöst hatte. Ich wusste nichts über ihn. Weder seine Fähigkeiten noch, warum er das tat, was er tat. Ich war von allen die harmloseste Bedrohung, aber vielleicht tötete er mich genau deswegen, weil ich mich nicht wehren konnte.

Die größte Enttäuschung in der Varnell Geschichte. Ein Kind ohne Talente. Ein Schandfleck, das schwarze Schaf. Nennt es wie ihr wollt. Ich für meinen Teil, musste so schnell wie möglich einen Ausweg aus dieser Hölle finden, sonst würde mich dasselbe Schicksal ereilen, wie im letzten Leben.

Mit Feder und Papier gerüstet, schob ich die Regeln zur Seite und ordnete meine Gedanken. Meine Finger mochten ungeübt daherkommen, doch Schreiben und Lesen beherrschte mein sechzehnjähriges Ich im Schlaf. Nur der Körper musste sich dran gewöhnen.

Gut. Wie gehe ich am besten vor? Bis jetzt hat sich nichts geändert. Jede Geste, jedes Wort ist gleich. Wenn das so bleibt, dann habe ich zehn Jahre. Zehn höllische Jahre, um meine Flucht in die Tat umzusetzen.

Die Option Vaters Nachfolger zu werden schloss ich direkt aus. Alle irgendwie zu töten, würde ich niemals schaffen. Nicht in meinem unveränderten Zustand.

Ich brauche Geld, einen Ort, wo ich leben könnte und eine Möglichkeit zur Flucht. Jeder Punkt ist praktisch unmöglich.

An Geld zu kommen, war die erste Hürde, der ich mich stellen müsste. Meine Familie war adelig und wohlhabend. Mir fehlte es hier an nichts und trotzdem besaß ich nicht eine Münze. Kleider, Essen, Schmuck. All das wurde von den Bediensteten gekauft und diese Vierwände zu verlassen, wurde mir erst in ein paar Jahren gestattet. Und zwar an dem Abend an dem ich sterben würde. Erst mit sechzehn wurden Kinder dem Adel offiziell vorgestellt, davor musste man stets in Begleitung der Eltern bleiben, wenn das Haus verlassen wurde. Ich kannte also die Welt dort draußen kaum und hatte fremde Länder nur auf Karten und in Büchern gesehen. Aber ich musste es tun. In Veneris wäre ich wohl kaum sicher genug gewesen, also musste ich das Land verlassen. Aber wo sollte ich hin? Und wie vor allem?

Die Familien der Kriegshelden waren bekannt. Auch wenn ich die Adeligen nicht kannte, sie kannten mich. Wussten meinen Namen, kannten mein Aussehen. Überall wo ich hinging, würden mich die Augen stehts erkennen und sofort Vater benachrichtigen.

Ich schnaufte und strich meine langen roten Haare hinters Ohr.

Wie soll ich hier nur rauskommen? Wie soll ich das schaffen?

Sofort setzte ich mich aufrechter hin.

Nein! Du bist nicht mehr das schwache Mädchen! Ich habe meine Entscheidung getroffen und werde sie umsetzten! Egal wie.

Es klopfte an der Tür und ich schmiss mein Gekritzel ins Kaminfeuer. »Herein!«

Die Dame trat ein und schloss hinter sich die Tür. Hocherhobenen Hauptes schritt sie zu mir und strich mit dem Daumen flüchtig über meine Wange. Ihre Augen glühten wie das Holz im Kamin. Ich kannte diesen Blick nur zugut. Sie gab mir ihre Haarfarbe und Erscheinung, mehr nicht. Liebe und Zuneigung waren Fremdwörter für die Frau, die ich Mutter nannte. Sie hoffte auf meinen Sieg. Auf einen Triumph in ihrem Leben, der sie auf der Rangliste ganz nach oben brachte. Lady Guinever Varnell.

»Hast du deinem Vater aufmerksam zugehört, Judith?«, hallte ihre strenge Stimme durch den Raum.

Ich senkte den Blick. »Ja, Mutter.«

Sie lächelte leicht. »Sehr schön! Dann weißt du ja, was auf dem Spiel steht. Ich erwarte viel von dir, Judith, enttäusch mich also nicht.«

War es gut, dass sie so mit ihrer Tochter sprach? Jetzt schon. Es half mir mich zu verschließen und meine Kindlichkeit weiter abzulegen. Ich hing in der Vergangenheit so oft an ihrem Rockzipfel. Bat sie darum mir zu helfen oder mich zu beschützen. Rannte weinend auf sie zu. Doch von ihr kamen nur verachtende Blicke. Sie verabscheute mich für meine Schwächen, hasste mich. In diesem Leben würde es jedoch anders sein. Ich hatte vor meine Mutter zu einer Spielfigur zu machen. Schob sie so lange vor mich her, bis ich sie nicht mehr brauchen würde. Das war meine Rache an sie.

»Mutter?«

Etwas verwundert über meine bestimmende Stimme, starrte sie mich an. »Ja?«

»Ich brauch Bücher über Verhaltensregeln und Umgangssprachen.«

Sie überlegte kurz. »Denkst du denn, dass du verstehst, was dort aufgeführt wird?«

»Und ich suche ab jetzt meine Kleider selbst aus.«

»Das ... ähm ...«, stammelte sie und ich ging zum Schreibtisch zurück.

»Das wäre alles.«

Sie würde nie darauf kommen, dass nicht ein Kind, sondern eigentlich eine junge Frau vor ihr stand. Meine Mutter war zwar eine Lady aus dem Hause Varnell, aber was Worte und Körpersprache anging, war sie so unwissend wie ich in meinem früheren Leben.

Um Leute auf Distanz zu halten wollte ich mich der Sprache bemächtigen. Worte, gepaart mit der richtigen Geste, sagten meist mehr aus als eine Bitte und Zurückweisung. Bringe dein Gegenüber dazu sprachlos zu sein, dann hast du schon halb gewonnen.

»Gut, ich werde ... das mit deinen Kammerzofen besprechen. Sie werden dir die Bücher bringen. Und was deine Kleider angeht, nun, du musst selbstständiger werden. Vielleicht ist das ein guter Anfang.«

Ohne ein weiteres Wort verließ meine Mutter das Zimmer und ich atmete tief durch.

Der Anfang ist gemacht. Jetzt muss ich es nur noch durchhalten.


Varnell - Unter Raubtieren [18+]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt