Der Morgen des neunten Juni schien ein ganz normaler zu werden.
Es war ein Montag und ich hatte gerade zwei Wochen Urlaub hinter mir. Das Schrillen meines Weckers am frühen Morgen erschien mir daher unbarmherzig und gemein, ich nahm es regelrecht persönlich. Ich war noch ganz gejetlagged von meinem Urlaub. Sie kennen das sicher: Wenn man im Urlaub zuerst das Ausschlafen genießt und nach ein paar Tagen auch abends mal wieder richtig lange wach sein kann? Normalerweise fallen mir um spätestens zweiundzwanzig Uhr die Augen zu, aber im Urlaub schläft man erst bis zehn Uhr am Morgen und macht dann den ganzen Tag nichts, sodass man auch nach Mitternacht noch nicht wirklich müde ist.
Dementsprechend hatte ich auch nur knapp fünf Stunden geschlafen, als mich der Wecker um sechs Uhr morgens aus meinen unruhigen Träumen riss. Ich wachte mit einem unbestimmten, kribbeligen Gefühl auf, das mein Traum zurückgelassen hatte, doch ich konnte mich nicht an ihn erinnern.
Mein Biorhythmus war also frühmorgendliches Aufstehen nicht mehr gewohnt und so schleppte ich mich mit entsprechender Laune zum Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen. Die Sonne war schon aufgegangen, der Himmel stahlblau. Von meinem Fenster aus hatte ich einen wunderbaren Blick auf die tiefer gelegenen Ebenen der Stadt, die jetzt im Morgenlicht noch nebelverhangen da lagen. Ich öffnete das Fenster und sog die frische Luft ein. Es war noch recht kühl, aber es versprach ein warmer Sommertag zu werden.
Mein Kleiderschrank bot nicht gerade die größte und vor allem nicht originellste Auswahl. Das lag in erster Linie an meiner Mutter, die jedes unkonventionelle Outfit mit ihrem typischen Willst-du-das-wirklich-anziehen-Blick abstrafte, bis ich es zurück zum Laden brachte oder meiner Schwester Leah schenkte. Leah sagte immer, ich sollte mich nicht so sehr von unserer Mutter beeinflussen lassen und vor allen Dingen endlich von Zuhause ausziehen und ich wusste, dass sie Recht hatte, aber der Antrieb dazu fehlte mir einfach.
Aber heute war mir nach einem Outfit, das mich glücklich machte. Es musste immerhin den ersten Arbeitstag nach zwei Wochen Urlaub entschädigen. Außerdem musste es zwei angefutterte Urlaubskilos wegschummeln (White-Chocolate-Eiscreme war im Sommer meine Nemesis. Im Winter waren es Schoko-Zimt-Kekse). Zielsicher griff ich zu dem marineblauen Kleid, das ich auf einer Shoppingtour mit Leah gekauft hatte. Es war nicht zu kurz fürs Büro, denn es umspielte knapp das Knie; es war an der Hüfte leicht gerafft, sodass man die überflüssigen Pfunde nicht sah, und außerdem hatte es einen beachtlichen Ausschnitt, der meine Brüste in Kombination mit meinem Push-up gut zur Geltung brachte. Das war die Portion Selbstbewusstsein, die ich jetzt brauchte. Dazu eine dezente, silberne Kette und ein paar mittelhohe Pumps. Die neue Arbeitswoche konnte kommen.
Erinnern Sie sich an den Moment als Sie mit siebzehn oder vielleicht achtzehn Jahren Ihr Schulabschlusszeugnis in der Hand hielten und davon träumten, wie das Leben wohl in zehn Jahren aussehen würde?
Nein? Ich auch nicht. Diesen Moment gab es nie, bis heute gilt er als vermisst. Ich wusste nie, wo mich mein Leben hinbringen würde und ob auf diesem Weg ein Mann, ein Kind oder ein Haus auf mich warten würden. Ich hatte keinen Plan, ob ich Karriere machen wollte und wenn ja, in welcher Branche.
Heute weiß ich, dass so ein Plan keine schlechte Idee ist, auch wenn man ihn letzten Endes nicht umsetzen kann. Viele träumen davon, ein Filmstar zu werden - nur die wenigsten werden es schaffen, aber vielleicht sehen wir manche von ihnen in großartigen Theaterstücken spielen? Einige hegen den Wunsch, Millionär zu werden, aber sicher werden sie es nie – doch vielleicht arbeiten sie hart genug, um ein unbeschwertes Leben zu führen!?
Wie gesagt: Ich hatte solche Träume nie. Das mag merkwürdig klingen, aber im Grunde genommen ist es so. Einmal sagte ich meinen Eltern, ich wolle Kellnerin werden, und als sie lachten, war auch dieser Traum gestorben. Besondere Talente hatte ich nie: Ich habe nie gerne Sport gemacht, ich war weder gut in Mathe noch in Schach. Mein literarisches Interesse hält sich in Grenzen und am Computer bin ich genauso schnell wie meine fünfzigjährige Kollegin.
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Mitternachtskuss
ChickLit"Nichts war schön. Die LED-Ziffern eines Weckers verrieten mir, dass es drei Uhr neunundzwanzig war. Ich war in einer fremden, dunklen Wohnung und hatte nicht mal den Hauch einer Ahnung in welchem Stadtteil sich diese Wohnung befand. War ich überhau...