Vermutlich erwarten Sie jetzt, dass ich Ihnen erzähle, ich habe in der Arbeit beim Arbeitsamt endlich meine Passion gefunden, den Menschen zu helfen mache mir große Freude und der Austausch mit meinen Kollegen sei geistreich und belehrend. Aber das stimmt leider nicht.
Ich teile mein winziges Büro mit meiner Kollegin Donna. Das Büro ist bis unter die Decke vollgestopft mit Regalen, Aktenordnern, Kisten und Pflanzen, es riecht seit jeher muffig und Donnas Parfumwolken tragen auch nicht gerade zur Besserung bei. Donna ist klein und rundlich, wobei sich ihre Rundungen vor allem auf ihren Busen und ihren Bauch verteilen, und ihre ordentliche Haarmähne, die noch nicht mitbekommen hat, dass die achtziger Jahre vorbei sind. Denn neben strengem Parfum in rauen Mengen trägt Donna auch gerne Dauerwelle, sowie enge Shirts in Animal-Print-Optik und High Heels. Donna ist das Abziehbild einer Sachbearbeiterin im Arbeitsamt. Nicht, dass sie nicht nett wäre. Um Gottes Willen, Donna ist eine liebenswerte Frau, die mich regelmäßig mit Kuchen und Keksen füttert, mir Gemüse aus ihrem Garten mitbringt und mich auch aus ihrem Urlaub heraus mit aktuellen Fotos ihrer Katzen Maybelle und Sara versorgt. Donna ist fünfundfünfzig Jahre alt und hat weder Mann noch Kind. Dementsprechend habe ich das Vergnügen, so etwas wie Donnas Ersatztochter zu sein.
Und dabei habe ich doch schon eine Mutter, und zwar eine, die eigentlich anstrengend genug ist.
Donna war wie immer vor mir im Büro. Das wusste ich spätestens als ich unseren Flur betrat und eine üble Mischung aus schwerem Parfum und aromatischen Früchtetee roch. Sie trank mindestens zwei Liter Tee am Tag und jede Sorte hatte einen ziemlich penetranten Geruch.
Ich wischte die unerfreulichen Gedanken an meine Mutter weg, rückte mein Dekolleté zurecht und betrat strahlend das Büro. Donna konnte ja nichts dafür, dass meine Mum mich schon morgens genervt hatte. Und so anstrengend meine Arbeitskollegin auch sein mochte: Sie war liebenswert und irgendwie hatte sie mir in den letzten beiden Wochen gefehlt.
Da saß sie hinter ihrem Schreibtisch, ihr Gesicht umhüllt von ihrer großen, blonden Lockenmähne. Die Augen dunkel geschminkt, die Lippen dunkelrot nachgemalt. Sie trug ein wild gemustertes Shirt, bei dem ich nicht genau sagen konnte, welche Farben es nicht enthielt. Und so skurril ihr Anblick auch war: Ihre Miene hellte sich auf, als ich das Büro betrat. Mir kam der Gedanke, dass ich etwas hätte mitbringen können: Kuchen oder Bagels oder wenigstens einen Coffee to go. Dank meiner Mutter hatte ich an all das heute Morgen keinen Gedanken mehr verschwendet.
Donna erhob sich von ihrem Stuhl und kam auf ihren High Heels zu mir herüber getippelt. Sie schloss mich in ihre Umarmung und drückte mich an ihren großen Busen. „Mein Schätzchen, wie schön, dass du wieder da bist!"
„Danke Donna, ich hab dich auch vermisst." Ich löste mich aus ihren Armen und ließ mich auf meinen Bürostuhl fallen. Ich sah an meinem Posteingang schon, dass eine Menge Arbeit auf mich wartete. Donna, die sich auch wieder an ihren Schreibtisch gesetzt hatte, sah meinen genervten Blick. „Oh ja", meinte sie dann, „da hat sich mal wieder ganz schön was angesammelt. Vor allem wegen dieser Befragung, die der Chef angeordnet hat."
„Jetzt schon?", fragte ich ungläubig. Unser Chef hatte sich nämlich eine ganz tolle Aktion ausgedacht, die für ihn Prestige und für uns Arbeit bedeutete. Als hätten wir nicht schon genug zu tun, sollten wir alle unsere Kunden der letzten fünf Jahre befragen, wie sehr ihnen unser Service langfristig geholfen hatte. So ganz verstand ich den Sinn der Studie noch nicht, was ich jedoch verstand, war, dass wir alle unsere Kunden kontaktieren und ihre Daten auf den neuesten Stand bringen mussten. Danach würden sie die eigentliche Befragung anonym online durchführen. Die Aktion war zum Scheitern verurteilt, genauso gut hätten wir das Geld auch einfach verbrennen können, aber das war ja verboten, deswegen musste es in solche unsinnigen Aktionen investiert werden. Aber nach meiner Meinung fragte ja niemand.
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Mitternachtskuss
Chick-Lit"Nichts war schön. Die LED-Ziffern eines Weckers verrieten mir, dass es drei Uhr neunundzwanzig war. Ich war in einer fremden, dunklen Wohnung und hatte nicht mal den Hauch einer Ahnung in welchem Stadtteil sich diese Wohnung befand. War ich überhau...