Kapitel 1

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Als die ersten Sonnenstrahlen den Horizont durchbrachen und ein warmes Licht über Bergdorf legten, spürte Lila Bennet ein seltsames Kribbeln in ihrer Brust, das ihr zuflüsterte, dass sich ihr Leben bald für immer verändern würde. Sie hatte jahrelang von diesem Tag geträumt. Mit jedem Sonnenuntergang hatte sie ein weiteres Datum in ihrem Kalender durchgestrichen, sehnsüchtig blickend auf diesen einen Sonntag im Juni. Und nun war er da, in großer blauer Schrift hervorgehoben: "Abschlusszeremonie".

Mit einem tiefen Atemzug ließ Lila ihren Blick durch das vertraute Zimmer schweifen. Der hölzerne Schreibtisch, an dem sie so viele Nächte über Hausaufgaben, Facharbeiten und Präsentationen verzweifelt war, wirkte noch nie so geordnet. Alle Bücher und Hefte aus der Oberstufe waren am Tag der letzten Abiturprüfung sofort auf den Dachboden gewandert. Der große, an der Wand lehnende Spiegel war mit unzähligen Fotos und kleinen Notizen ihrer Freunde beklebt, bot jedoch trotzdem genug Platz, um Lila bei ihrer täglichen Outfitwahl zu beraten. Und schließlich das große Fenster neben ihrem Bett, durch das sie unzählige Abende das verträumte Leben ihrer Kleinstadt aus dem Fenster beobachtet hatte. 

Geprägt von charmanten Häusern, kleinen Läden und dem Blick auf den riesigen grün-blauen See, an dem die schönsten Sommerabende verbracht wurden, war Bergdorf der perfekte Ort, um ein komfortables Leben zu führen. Ihre gesamte Kindheit hindurch war Lila davon überzeugt gewesen und auch heute, mit ihren 18 Jahren, konnte sie das nicht bestreiten. Und doch spürte sie einen unterschwelligen Drang in die Ferne.

Mit einem Schwung öffnete sich die hölzerne Tür zu ihrem Zimmer und riss Lila aus ihren Gedanken. „Guten Morgen, Schatz! Ich hatte schon Sorge, dass du verschläfst", strahlte Anne. „Machst du dich bitte fertig? Wir müssen bald los, und du solltest vor deinem großen Tag unbedingt noch etwas frühstücken." 

Lila sah ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr gesagt, dass sie das schmale Kinn, die spitze Nase und vor allem die hellblauen Augen ihrer Mutter geerbt habe. Doch egal, wie oft diese Ähnlichkeit betont wurde, Lila wusste, dass sie und ihre Mutter nicht unterschiedlicher hätten sein können.

Anne war in Bergdorf aufgewachsen und hatte ihr gesamtes Leben dort verbracht. Schon in der Schule hatte sie ihren zukünftigen Ehemann Paul kennengelernt, mit dem sie später ihrer Tochter Lila eine wundervolle und unbeschwerte Kindheit geschenkt hatte. Für Anne war Bergdorf der Inbegriff des idyllischen Lebens, und genau eine solche perfekte Zukunft wünschte sie sich auch für Lila. 

Der Plan war einfach: Zu September sollte Lila sich an der etwa 30 Minuten entfernten Uni Hochstadt immatrikulieren und dort Medizin, Jura oder einen anderen angesehenen Studiengang beginnen. Schon im ersten Jahr sollte sie ihren zukünftigen perfekten Ehemann treffen, mit dem sie dann ein Haus in Bergdorf beziehen und eine glückliche Familie gründen würde – Pluspunkte für einen Golden Retriever. Dass der Gedanke an eine solche Zukunft Lila schaudern ließ, wusste Anne nicht, und Lila war sich sicher, dass das vorerst auch besser so war.

„Klar, Mom, ich beeile mich", gähnte Lila, bevor sie sich vom Bett abstieß und sich streckte. Ein langes hellblaues Kleid hing schon seit Tagen an ihrer Tür und diente als Erinnerung an den bevorstehenden Tag. Sie strich über den kühlen, seidigen Stoff und ein Schwung Nervosität überkam sie. Vor Wochen hatte sie es gemeinsam mit ihrer besten Freundin Jeanie in einer kleinen Boutique ausgesucht. Nach stundenlanger Suche und etlichen Anproben, begleitet von Jeanies gelegentlichem Nörgeln und Stöhnen, hatte sie endlich ein passendes Kleid gefunden – nicht zu auffällig, aber auch nicht zu schlicht. 

Obwohl sie sich nicht als besonders schüchtern beschreiben würde, stand Lila nie gern im Mittelpunkt. Das würde sich auch nicht ändern, wenn sie vor der gesamten Gemeinde Bergdorfs allein über die Bühne gehen müsste, um ihr Abschlusszeugnis zu erhalten.

Nachdem sie ihr dezentes Make-up auf ihr von Sommersprossen übersätes Gesicht aufgetragen und ihre langen, welligen Haare locker zurückgesteckt hatte, betrachtete Lila sich im Spiegel. Sie war hübsch – nicht die Art von hübsch, die jedem Jungen den Kopf verdrehte und das ein oder andere Mädchen vor Neid im Boden versinken ließ – aber hübsch auf eine zurückhaltende, leise Art. Ihr Gesicht war schmal, aber ohne markante Wangenknochen. Dunkelblondes Haar, das nur im Licht des Sonnenuntergangs glänzte, und ein schlanker Körper, der jedoch nicht mit denen der Models konkurrieren konnte. 

Das einzige Merkmal, das wirklich auffiel, waren ihre strahlend hellblauen Augen. So oft hatte sie gehört, wie außergewöhnlich sie waren, war gefragt worden, ob sie Kontaktlinsen trage oder ob man nicht Augen tauschen könnte. Klar, es war schön, Komplimente zu bekommen, doch an diesem Morgen, als sie in ihre eigenen Augen blickte, überkam Lila ein Gefühl der Unsicherheit und Fremdheit.

Im Spiegelbild ihrer Augen sah sie sich als Abbild ihrer Mutter. Dreißig Jahre in der Zukunft, im eigenen Haus in Bergdorf, mit Ehemann und Kind. Ein einfaches, ruhiges Leben, so wie es immer geplant war. Ihr war bewusst, welche Erwartungen sowohl ihre Eltern als auch die anderen Bewohner Bergdorfs an sie hatten. Hier, in Bergdorf, war ihre Zukunft sicher und behütet. Hier war sie Lila Bennet, die ruhige, hübsche Tochter von Anne und Paul, die ein klassisches Leben führen würde. 

War das ihre Zukunft? Lilas Herz begann zu rasen, und ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen. War es kindisch von ihr? Undankbar? Dieser unbändige Wunsch, fortzugehen. Irgendwohin, wo alles anders war, wo sie neue Menschen treffen würde, die sie nicht schon seit dem Kindergarten kannte. Herauszufinden, wer sie jenseits der Grenzen Bergdorfs wirklich war und ob diese andere Lila vielleicht glücklicher sein könnte. Das Verlangen, dem Leben, das sie kannte, zu entfliehen, war fast überwältigend – als würde es ihr die Luft abschnüren. Und doch bildete der Gedanke, es laut auszusprechen oder gar Wirklichkeit werden zu lassen, einen schweren Kloß in ihrem Hals.

Mit einem tiefen Atemzug wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab. Was auch immer geschehen würde – heute würde sie ihrer neuen Zukunft einen Schritt näher kommen.

The Space We LeaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt