Kapitel 2

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Der Tag war wie im Flug vergangen. Hunderte Umarmungen und Glückwünsche später kehrten die Bennets zurück in das rote Backsteinhaus auf dem Hügel von Bergdorf. Die letzten Sonnenstrahlen verabschiedeten sich hinter dem Horizont und tauchten das Haus in ein warmes, goldenes Licht.

„Wir sind so stolz auf dich," sagte Anne lächelnd und strich Lila über den Kopf. Paul fügte hinzu: „Du weißt gar nicht, was für eine tolle Zeit jetzt auf dich wartet. Meine Uni-Jahre waren die besten meines Lebens, und ich habe von so vielen Eltern gehört, dass ihre Kinder auch in Hochstadt studieren werden. Du wirst dort sicher schnell Anschluss finden."

Lilas Lippen formten sich zu einem gequälten Lächeln, während ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog. „Ich weiß, Dad. Ich kann es kaum erwarten!" Die warmen Blicke ihrer Eltern ließen sie sich schuldig fühlen. Sie wusste, dass sie nur das Beste für sie wollten, doch wussten sie wirklich, was das Beste für sie war? Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, und Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich geh kurz in mein Zimmer, um die Glückwunschkarten wegzulegen," krächzte sie, bevor sie die Treppe hinauf verschwand.

Kaum hatte sie ihre Zimmertür hinter sich geschlossen, brachen die Tränen aus ihr heraus. Es war, als ob alle unterdrückten Gefühle der letzten Monate sich wie ein Damm gelöst hätten. Schluchzend setzte sie sich auf ihr noch vom Morgen zerwühltes Bett und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Der Moment, in dem sie endlich ihr Abschlusszeugnis erhalten und frei sein würde, hatte sie in den letzten Monaten voller Hoffnung gehalten.

So oft hatte sie sich vorgestellt, noch am selben Tag ihre Sachen zu packen und einfach irgendwohin aufzubrechen. Vielleicht sogar aus Europa hinaus, wer weiß? Sie hatte gehofft, dass dieser Tag ihr alle Türen öffnen würde. Dass ihre Eltern sie bis dahin zumindest einmal gefragt hätten, was sie wirklich wollte. Doch nun war der Tag gekommen, und nichts dergleichen war passiert. In ihrer Zukunft sah sie ein perfektes Leben – ein Leben, geplant nach den Erwartungen anderer. In keiner dieser Zukunftsvisionen erkannte sie sich selbst wieder. Sie wusste ja nicht einmal, wer sie wirklich war. Ihr ganzes Leben war vorgezeichnet gewesen, das brave Mädchen aus Bergdorf, das ein ruhiges Leben in seiner Heimat führen würde.

Ihre Kehle schnürte sich zu, und ihre Atmung wurde flach und keuchend, während ihr Blick verschwamm. Sie spürte, wie ihre Brust sich enger zusammenzog, ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam sie, und ihr ganzer Körper begann zu kribbeln. Ein Dröhnen erfüllte ihren Kopf, und es war, als würde eine Stimme in ihr schreien: „Du hast deine einzige Chance verpasst, Lila! Jetzt ist es zu spät. Du wirst genau das Leben führen, das du nie wolltest." Sie legte ihre Hände auf die Ohren, um die Stimme zu verdrängen, aber sie wurde immer lauter, ihr Schluchzen war unaufhaltsam.

„Lila?", kam plötzlich eine warme Stimme aus dem Türspalt. „Was ist denn los, mein Schatz?" Paul war ins Zimmer gekommen, setzte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Es ist alles gut, Dad, mach dir keine Sorgen," wollte Lila sagen, doch es kam nur ein krächzendes Schluchzen über ihre Lippen. „Atme tief ein und aus. Alles wird gut." Paul strich ihr beruhigend über die Haare und begann gemeinsam mit ihr tief ein- und auszuatmen. Mit jedem Atemzug verließ das Kribbeln langsam ihren Körper, doch das schmerzhafte Gefühl in ihrem Herzen blieb.

Als Lila sich schließlich ein wenig beruhigt hatte, sah Paul sie liebevoll an. „Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, ja?" Lila nickte, doch Tränen rollten weiterhin über ihre Wangen, die Paul sanft wegwischte. „Ich...", begann sie, doch der Kloß in ihrem Hals hinderte sie am Sprechen. Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Die Stimmen hatten recht gehabt – jetzt war ihre einzige Chance, und sie konnte es nicht länger verbergen. Sie war nicht bereit, ihre Träume aufzugeben, ohne es wenigstens versucht zu haben.

„Ich möchte nicht studieren, Dad. Ich möchte reisen. Ich habe das Gefühl, dass mein ganzes Leben bereits für mich vorbestimmt ist, und ich weiß nicht, ob ich wirklich zu dem Leben passe, das ihr euch für mich wünscht. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wer ich wirklich bin oder was ich will. Aber wenn ich in Bergdorf bleibe und immer dieselben Menschen um mich habe, wie mein ganzes Leben lang, werde ich es nie herausfinden, und davor habe ich Angst," platzte es aus ihr heraus. Sie atmete tief aus, und eine Last fiel von ihrem Herzen. Endlich hatte sie es ausgesprochen.

Voller Hoffnung blickte sie ihrem Vater in die Augen. „Bitte, versteh mich. Unterstütz mich. Sei nicht sauer," dachte sie, doch sie sprach die Worte nicht aus. Paul runzelte die Stirn und sah sie lange an, in einer Stille, die nur von Lilas leisen Atemzügen unterbrochen wurde. „Verdammt," dachte sie. „Ich hätte es ihm nicht sagen sollen. Was hab ich mir dabei gedacht? Er wird mich niemals unterstützen. Und wenn Mom das erfährt..."

„Lila. Ich hatte keine Ahnung, wie ähnlich wir uns doch sind," brach Paul die Stille. Seine Augen wurden sanft, und er betrachtete Lila liebevoll. „In deinem Alter..." Er räusperte sich. „In deinem Alter ging es mir ganz genauso." Lilas Herz schien für einen Moment stillzustehen. „Es ist besser, wenn ich es dir zeige. Warte hier." Paul stand auf und verließ das Zimmer, während Lila verwirrt zurückblieb.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrte Paul zurück, in den Händen zwei schwere, staubige Bücher, die sie noch nie gesehen hatte. Er ließ sich wieder aufs Bett fallen und wischte den Staub vom obersten Buch weg. „Indonesien – Land der tausend Inseln" stand in großen, dicken Buchstaben darauf, darunter Bilder von paradiesischen Stränden, bunten Blumen und farbenfrohen Tempeln. „Das war mein Traum," sagte Paul und schlug das Buch auf.

„Ich war wie du. In der elften Klasse konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als für immer in Bergdorf zu bleiben." Sein Blick war wehmütig, als er über die Bilder des Buches strich. „Indonesien war mein Traum. Monatelang habe ich gespart, um nach dem Abschluss den ersten Flieger zu nehmen und das Land allein zu erkunden." Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, und seine Augen begannen zu leuchten.

Er zeigte auf das zweite Buch, dessen brauner Einband von einem Gummiband zusammengehalten wurde. „Hier habe ich alles geplant: Orte, die ich sehen wollte, Gerichte, die ich probieren wollte, indonesische Wörter, die ich lernte, um mich verständigen zu können. Ja, ich hatte alles geplant und habe nur noch die Tage gezählt, bis ich endlich los konnte." Er lächelte Lila an, die ihn fragend ansah.

„Aber was ist passiert? Warum bist du nicht gegangen, Dad?", fragte sie erstaunt. „Nun ja, wie du weißt, kamen deine Mutter und ich uns in der zwölften Klasse näher. Sie hat mich so glücklich gemacht, dass der Traum des Fortgehens plötzlich zum Albtraum wurde. Ich wollte nur noch bei ihr sein und mit ihr ein Leben aufbauen." Er strich Lila über den Kopf. „Wenn man verliebt ist, scheint die Welt um einen herum ausgeblendet zu sein. Alles andere wird unwichtig." Lila blickte zu Boden. „Genau so etwas habe ich mir immer für dich gewünscht," fügte Paul hinzu. „Aber ich verstehe, wenn du andere Träume hast, und ich will, dass du weißt, dass ich dich unterstützen werde."

Ein Gefühl der Erleichterung überkam Lila, und Tränen der Freude füllten ihre Augen. Sie umarmte ihren Vater fest und schluchzte: „Danke, Dad! Du weißt gar nicht, was mir das bedeutet." Nach einer langen Umarmung übergab Paul ihr die Bücher und machte sich auf zur Tür. Bevor er das Zimmer verließ, trafen sich ihre Blicke, und beide lächelten breit. „Leb du den Traum, den ich nie erfüllen konnte," flüsterte er, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Erleichtert atmete Lila aus, ihre Hände leicht zitternd. Sie nahm das Notizbuch ihres Vaters und begann ehrfürchtig darin zu blättern. Mit jedem Wort, jedem Bild und jedem Plan, den der junge Paul dort festgehalten hatte, verspürte sie Abenteuerlust, Vorfreude und Ehrfurcht. Innerlich sah Lila das Bild ihres jungen Vaters, voller Träume und Hoffnungen. Alle Zweifel, die sie je hatte, verschwanden augenblicklich.

The Space We LeaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt