Das Erbe

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Mia starrte auf den Brief, den sie aus dem Briefkasten gefischt hatte. Die goldene Schrift auf dem Umschlag glitzerte im Sonnenlicht und erinnerte sie an die Geschichten, die ihre Mutter oft erzählt hatte. Doch in diesem Moment konnte sie keinen Sinn für die Worte finden. „Erbe" – das klang so bedeutend, doch für sie war es nur ein weiteres Kapitel in einer Geschichte, die sie nicht verstand.

„Mia! Hast du schon gepackt?", rief ihre beste Freundin Sarah aus dem anderen Zimmer. Ihre Stimme war fröhlich und unbeschwert, im Gegensatz zu dem Gefühlschaos in Mias Innerem.

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich fahren soll", murmelte Mia und ließ sich auf ihr Bett fallen. Die Wände waren mit Postern ihrer Lieblingsbands und Erinnerungen an schöne Zeiten dekoriert. Ravenswood war ihr fremd und schien weit weg von der Realität zu sein, in der sie lebte.

„Du kannst das Erbe deiner Großmutter nicht einfach ignorieren", insistierte Sarah und steckte ihren Kopf in Mias Zimmer. „Das könnte eine Chance sein, mehr über deine Familie herauszufinden. Wer weiß, vielleicht gibt es dort etwas Interessantes zu entdecken!"

Mia seufzte und drehte sich zur Seite. „Es ist Ravenswood. Warum sollte ich da hinfahren? Ich kenne die Stadt nicht, und ich habe keine Lust auf irgendwelche Familienerinnerungen, die ich nicht haben möchte."

Sarah setzte sich auf die Bettkante und sah sie an. „Aber deine Großmutter hat dir etwas hinterlassen, etwas, das einen Teil deiner Geschichte ausmacht. Das solltest du dir ansehen. Vielleicht wirst du überrascht sein."

Mias Gedanken wanderten zu den Geschichten, die ihre Mutter ihr oft erzählt hatte – von der alten, verwitterten Villa, in der ihre Großmutter gelebt hatte, von den Geheimnissen, die dort verborgen waren. „Könnte es nicht ein Ort voller Erinnerungen sein, die ich nicht kenne?", flüsterte sie.

„Vielleicht. Aber du wirst es nie herausfinden, wenn du nicht hingehst", entgegnete Sarah. „Komm schon, du bist 17, und es ist Zeit, ein bisschen Abenteuer in dein Leben zu lassen."

Mia spürte, wie eine Mischung aus Angst und Neugier in ihr aufstieg. Vielleicht war es an der Zeit, die Vergangenheit zu erkunden. „Okay, du hast recht. Ich werde gehen."

Am nächsten Tag machte sie sich auf den Weg nach Ravenswood. Die Straßen wurden schmaler und die Bäume dichter, je näher sie der Stadt kam. Ein Gefühl der Melancholie überkam sie, als sie das alte, verlassene Haus ihrer Großmutter erreichte. Es war groß und majestätisch, doch die bröckelnde Fassade ließ es gespenstisch wirken.

„Willkommen im Familienerbe", murmelte sie, während sie aus dem Auto stieg. Der Wind blies kalt um ihre Ohren und trug den Duft von feuchtem Laub mit sich. Mit einem tiefen Atemzug öffnete sie die Tür und trat in die düstere Eingangshalle ein. Staub und Schatten lagen über allem, und die Luft war schwer und still, als ob das Haus selbst atmete.

In der Mitte des Raumes stand ein massiver Holztisch, umgeben von Stühlen, die alle ihre eigene Geschichte zu erzählen schienen. „Ich kann hier nicht bleiben", dachte sie und wollte sich schon umdrehen, als ihr Blick auf etwas fiel – ein altes, ledergebundenes Tagebuch lag auf dem Tisch.

Neugierig ging sie näher heran und öffnete es vorsichtig. Die Seiten waren vergilbt, und die Schrift war krakelig, aber lesbar. „Was hast du mir zu erzählen?", murmelte sie und begann zu lesen.

Es war das Tagebuch ihrer Großmutter. Mit jeder Zeile, die sie las, wurde sie tiefer in die Vergangenheit hineingezogen. Die Worte erzählten von einer Zeit voller Aufregung, Liebe und Verlust, von Hoffnungen und Träumen, die in der Zeit verloren gegangen waren.

Aber das, was sie am meisten beeindruckte, war die Erwähnung eines mysteriösen Mannes namens Ethan. Immer wieder tauchte sein Name auf, und mit jeder Erwähnung wuchs in ihr die Neugier. Wer war dieser Ethan? Was hatte er mit ihrer Familie zu tun?

„Ich muss mehr herausfinden", dachte Mia, als sie den letzten Eintrag las, der mit einem verzweifelten Aufruf endete: „Ethan, ich hoffe, du wirst mir verzeihen. Die Entscheidung, die ich getroffen habe, wird alles verändern."

Im Moment ihrer Gedanken hörte sie ein Geräusch. Jemand war in der Nähe. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Instinktiv schloss sie das Tagebuch und steckte es in ihre Tasche, als sich die Tür öffnete. Ein junger Mann stand im Türrahmen. Er hatte dunkle Haare, einen durchdringenden Blick und strahlte eine geheimnisvolle Aura aus, die sie sofort fesselte.

„Bist du die Enkelin von Clara?", fragte er, und seine Stimme war tief und melodisch.

„Ja, das bin ich. Und du bist?"

„Ethan", antwortete er und trat einen Schritt näher. „Ich kenne deine Großmutter gut. Sie hat mir viel über dich erzählt."

Mia war überrascht. „Sie hat über mich gesprochen?"

„Ja. Sie war sehr stolz auf dich. Aber es gibt Dinge, die du wissen solltest – über deine Familie und über Ravenswood. Du bist hier nicht nur wegen des Erbes."

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. „Was meinst du damit?"

„Es gibt Geheimnisse in dieser Stadt. Geheimnisse, die nicht in den Geschichtsbüchern stehen. Und ich bin hier, um dir zu helfen, sie zu entdecken", sagte Ethan und lächelte geheimnisvoll.

Mia spürte, dass sich etwas in ihr regte – eine Mischung aus Angst und Aufregung. Sie wollte mehr erfahren, und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass die Wahrheit gefährlich sein könnte.

„Ich weiß nicht, ob ich bereit bin für das, was du mir erzählen willst", gab sie zu und klammerte sich an das Tagebuch.

„Du bist stärker, als du denkst. Und es ist Zeit, die Schatten der Vergangenheit zu beleuchten", antwortete Ethan und sah sie mit intensiven Augen an.

Mia fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Irgendetwas an ihm war anders, und je länger sie ihn ansah, desto mehr wollte sie wissen, was er über ihre Familie wusste.

„Was sind das für Geheimnisse? Warum hat meine Großmutter nie darüber gesprochen?"

„Das sind Fragen, die wir gemeinsam beantworten können", erwiderte Ethan, und sein Lächeln wirkte einladend. „Aber du musst bereit sein, die Wahrheit zu akzeptieren – auch wenn sie schmerzhaft ist."

In diesem Moment wusste Mia, dass ihre Reise gerade erst begonnen hatte – und dass sie nicht mehr zurück konnte. Sie würde die Schatten der Vergangenheit ergründen und alles herausfinden, was sie über ihre Familie und sich selbst wusste.

Schatten der VergangheitWhere stories live. Discover now