Interlude 1

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Mayla kniff die Augen zusammen, verstärkte den Griff um den kleinen Gegenstand in ihrer Hand und versuchte tief durchzuatmen. Sie saß in einem Bus, ein denkbar schlechter Moment, um zusammenzubrechen. Die junge Frau hatte den Blick gesenkt, damit die Fahrgäste um sie herum nicht bemerkten, wie es ihr ging. Die Tasche mit der Mappe und den Akten darin lehnte tonnenschwer an ihrer Seite und sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was in den nächsten Tagen und Wochen noch auf sie zukam.

Er hatte sie alleine gelassen. Er hatte ihr versprochen, immer an ihrer Seite zu sein.

Jetzt war Mayla vollkommen alleine.

Ihre Welt hatte jegliche Farbe verloren und ein trüber Schleier hatte sich über sie gelegt.

Die einzige grobe Kante des Steins in ihrer Hand drückte in ihre Haut. Ihr kleiner Bruder hatte den Stein stets in seiner Hosentasche bei sich getragen und die letzten Tage im Krankenhaus gar nicht mehr aus der Hand gelegt. Die Ärzte hatten alles für ihn getan, doch den Kampf verloren. Rachel, die Krankenschwester, die ihn am längsten kannte, hatte Mayla in eine Umarmung gezogen und über den Rücken gestrichen. Sie hatte die junge Frau getröstet und ihr leise Worte ins Ohr geflüstert, bis die Tränen vorerst versiegt waren. Doch lange hatte Mayla keine Zeit, um zu trauern. Schon nach kurzer Zeit hatte sie Dokumente ausfüllen und Entscheidungen treffen müssen, für die sie sich noch nicht im Geringsten bereit gefühlt hatte. Es war jedoch nicht das erste Mal gewesen.

Ein Druck legte sich auf ihre Brust und sie hatte das Gefühl nicht atmen zu können. Die junge Frau hoffte inständig, dem Bus entfliehen zu können, doch vorzeitig aussteigen kam nicht in Frage. Der nächste Bus kam erst in einer Stunde.

In ihren Ohren dröhnte es und sie hatte das Bedürfnis, sich ganz klein zu machen und die Hände auf die Ohren zu pressen.

Sie war ganz allein.

Ihre Großeltern aus Maine, wo Mayla jeden Sommer verbracht hatte, waren gestorben, als sie 13 war. Die anderen Großeltern hatte sie nie kennengelernt. Ihre Eltern waren bei einem tragischen Autounfall gestorben, als sie 25 war. Tanten und Onkel gab es nicht. Und jetzt, zwei Jahre später war ihr Bruder gestorben.

Das Verhältnis in ihrer Familie war nie sonderlich leicht gewesen. Die Schwangerschaft ihrer Mutter mit ihrem Bruder war nicht geplant und hatte sie alle überrascht. Zwischen den Geschwistern lagen sieben Jahre. Als Maylas Bruder in die High School kam, war sie ausgezogen und hatte ein College besucht. Das College war nur durch ein Stipendium möglich gewesen und dennoch hatte sie nebenbei in zwei Jobs gearbeitet. Sie hatte kaum Zeit gehabt, ihre Familie öfter zu besuchen. Und sie hatte es auch nicht gewollt. Sie war zurück nach Boston gezogen, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war, hatte sich fremd angefühlt. Sie kannte ihren Bruder kaum. Die erste Zeit hatten sie kaum miteinander gesprochen und sich viel gestritten. Sie verlor das Stipendium und entschied sich, nicht mehr zum College zurückzukehren. Die junge Frau war unglücklich gewesen. Als Maylas Bruder krank wurde, veränderte sich alles.

Tränen brannten Maylas in den Augen. Sie durfte hier nicht weinen. Sie würde das Mitgefühl der fremden Menschen um sie herum nicht ertragen.

Freunde hatte Mayla keine mehr. Als ihr Bruder im letzten Jahr so schwer krank wurde, hatten sie viele Freunde im Stich gelassen und die wenigen, die geblieben waren, hatte Mayla von sich gestoßen. Jetzt hatte sie keine Kraft mehr für andere Menschen und Beziehungen.

Die junge Frau drohte inmitten von Menschen zu ertrinken. Ihr Herz schlug schneller in ihrer Brust und ihre Atemzüge wurden flach und hektisch, dennoch hatte sie nicht das Gefühl, dass Sauerstoff ihre Lungen erreichte. Schwarze Flecken tanzten in ihrem Sichtfeld und Tränen brannten in ihren Augen.

Interlude 1 - Mayla und KyleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt