In dem Moment, als die grelle Neonleuchte zu flackern begann, schreckte Jova Constantin aus einem unruhigen Schlaf. Ihr Rücken schmerzte, als sie sich auf der harten Pritsche aufsetzte. Schlaftrunken gegen das Licht blinzelnd sah sie zur geöffneten Zellentür, durch die ein Mann im Anzug und zwei der Gefängniswärter eingetreten waren.
Durch ihren flimmernden Blick erkannte sie überrascht das Gesicht ihres Anwalts, der sie mit einem freundlichen Lächeln bedachte.Einer der beiden Wärter warf ihr ein in grünes Plastik getütetes Bündel zu, das treffsicher direkt vor ihr auf der dünnen Bettdecke landete. In hastig mit Edding gekrakelter Handschrift prangte ihr Name und die Häftlingsnummer darauf. Verwundert warf sie den Männern einen nervösen Blick zu. Einer der Wärter näherte sich ihr und zog aus seiner Tasche das Gerät, dass die elektrische Fessel an ihrem Handgelenk öffnete.
„Gute Nachrichten, Frau Constantin", verkündete der Anwalt. „Das Gericht hat ihrem Antrag stattgegeben. Sie werden heute das Gnadenjahr antreten", fuhr er fort und reichte Jova den Gerichtsbeschluss und eine offizielle Einladung. „Wir, Die Schwesternschaft der lauteren Vergebung, heißen Sie herzlich willkommen als Mitglied unserer naturverbundenen Glaubensgemeinschaft", las Jova überrascht und überflog den Rest des Briefes, unter dem sie die Unterschrift der Klosterleitung und den offiziellen Stempel des Richters fand.
Wie ein dumpfer Faustschlag traf diese Neuigkeit auf ihr ermattetws Gemüt. Plötzlich war sie hellwach. Sie konnte nicht glauben, was da geschrieben stand. Es erschien so surreal, dass sie glaubte, sich noch im Traum zu befinden. Dann riss das Blaffen eines Zellwärters Jova aus ihrer Schockstarre und ließ sie unwillkürlich zusammenschrecken. „Zelle räumen! Sie haben fünf Minuten"
Das war der Weckruf, der Jovas Körper einen heftigen Adrenalinstoß versetzte. Panik und ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung überkamen sie wie eine erdrückende Flut, als sie begann, die Bettwäsche abzuziehen und sich mit dem grünen Bündel in den Waschraum am Ende des Flures begab. Die Blicke der Wärter in ihrem Rücken schon längst gewohnt, legte sie ihre Häftlingskleidung ab und zog das Stück Seife aus ihrem Kulturbeutel, um sich für exakt drei Minuten kalt zu duschen. Keine Sekunde länger wäre der harte Strahl angeblieben.
Es war ihr längst gleichgültig geworden, dass diese Männer die Frauen jeden Tag nackt in den Waschräumen sahen. Sie hatte sich damit abgefunden, mit den Routinedursuchungen, dem kargen Essen, dem militärisch annutenden Morgensport und den Befragungen durch die Psychologin. Das alles war erträglich im Vergleich zu dem, was sich in ihrem Inneren abspielte. Pures Chaos, eine Mischung aus immer wiederkehrenden Szenarien ihrer Vergangenheit und, ob es hätte anders kommen können. Ob sie hätte abwenden können.
Es mochte also ein Segen sein, dass der Richter ihr ein Gnadenjahr gewährte oder vielleicht fing der eigentliche Fluch damit an, denn wer würde eine Mörderin in einem Kloster willkommenheißen? Wer würde einer Mörderin vergeben? Sollte sie diesem Gott endlich begegnen, vor dem alle Rechenschaft ablegen müssen?
Vor Kälte zitternd schlang sie das kratzige Handtuch um ihren zierlichen Körper. Das nasse Haar wrang sie über dem Waschbecken aus, bevor sie sich mit Wasser und Pulverzahnpasta die Zähne achrubbte. Aus dem Spiegel sah ihr zum ersten Mal nach langer Zeit ein vom Funken der Hoffnung belebtes Augenpaar entgegen. Eine Träne stahl sich über ihre Wange.
Danke lieber Gott, dachte sie und spuckte den Schaum der Zahnpasta in das Keramikbecken, bevor sie ihre eigene Kleidung aus dem Beutel zog und überstreifte. Das olivgrüne Top schlackerte hing wie ein Sack über ihrer Brust hinab. Der Gummibund ihrer ausgewaschenen Baggy-Jeans lag so locker um die Taille, dass es ihr ohne die Schnürung nicht möglich war, die Hose an Ort und Stelle zu halten. Ihr dunkles Haar tropfte noch von der Nässe. Sie versuchte es gut wie möglich zu trocknen und band es mit ihrem Zopfhalter zurück.
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Das Orakel im Turm
HorrorDie Schuld einer jungen Frau führt sie in ein abgelegenes Kloster,, doch schnell muss sie feststellen, dass dort schreckliche Dinge geschehen und um ihr Leben fürchten.