Der nächste Morgen brach trüb und grau an, als Helena sich aus dem Bett quälte. Die Gedanken an Dr. Falk und seine manipulativen Methoden ließen sie kaum zur Ruhe kommen. Sie konnte die Bilder aus ihren Erinnerungen nicht abschütteln – das verzerrte Gesicht, die blutigen Szenen. Etwas an diesen Visionen fühlte sich real an, zu real, um bloße Fantasie zu sein.Helena stand auf, zog ihren Mantel an und verließ ihre Wohnung, um sich einen klaren Kopf zu verschaffen. Die Straßen waren nass vom nächtlichen Regen, und die wenigen Passanten schienen in Eile, ihren eigenen Problemen nachzugehen. Sie entschied sich, in den nahegelegenen Park zu gehen, einen Ort, an dem sie oft Zuflucht gesucht hatte, wenn die Welt zu erdrückend wurde.
Im Park herrschte eine gespenstische Stille. Die Bäume warfen lange, verzerrte Schatten auf den feuchten Gehweg, und das gedämpfte Licht der frühen Morgenstunden verlieh der Szenerie einen unheimlichen Anstrich. Helena setzte sich auf eine verlassene Bank und zog ihre Jacke enger um sich. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und einen klaren Plan zu entwickeln.
„Ich muss mehr herausfinden,“ murmelte sie zu sich selbst. „Über Falk, über seine Vergangenheit, über die Todesfälle. Aber wie?“
Plötzlich hörte sie Schritte, die sich ihr näherten. Sie drehte sich um und sah eine ältere Frau, die langsam auf sie zukam. Die Frau hatte graues Haar, das ihr locker ins Gesicht fiel, und trug einen abgetragenen Mantel. Trotz des Alters hatte sie eine Präsenz, die Helena zugleich beruhigte und beunruhigte.
„Guten Morgen,“ sagte die Frau mit einer sanften Stimme. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Helena nickte, obwohl sie die Frau noch nie zuvor gesehen hatte. Etwas in ihren Augen erinnerte sie an ihre Mutter – eine Mischung aus Sorge und tiefer, unausgesprochener Traurigkeit.
„Mein Name ist Anna,“ sagte die Frau und setzte sich neben Helena. „Ich habe bemerkt, dass du oft hierher kommst. Du siehst aus, als ob dich etwas belastet.“
Helena zögerte einen Moment, dann nickte sie. „Ja, es ist kompliziert. Ich versuche, meine Erinnerungen wiederzufinden, aber es ist schwierig. Und da ist dieser Psychiater, Dr. Falk. Etwas an ihm ist nicht richtig.“
Anna hörte aufmerksam zu, ihre Augen weiteten sich leicht. „Dr. Falk? Ich kenne ihn. Er war früher in dieser Stadt tätig, aber er hat sich vor einigen Jahren zurückgezogen. Weißt du etwas über seine Vergangenheit?“
Helena schüttelte den Kopf. „Nur, dass er mit einigen Todesfällen in Verbindung gebracht wurde. Aber die Polizei hat nichts gefunden. Ich versuche herauszufinden, ob es einen Zusammenhang gibt.“
Anna seufzte tief und blickte in die Ferne. „Dr. Falk war einst ein angesehener Psychiater, aber er hatte immer eine Faszination für die dunkleren Seiten der menschlichen Psyche. Einige sagten, er sei besessen von der Idee, die tiefsten Geheimnisse seiner Patienten zu enthüllen. Es gab Gerüchte, dass er mehr als nur Therapie anstrebte – dass er Experimente durchführte, um die Grenzen des menschlichen Verstandes zu testen.“
Helena spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Hals bildete. „Experimente? Was für Experimente?“
Anna sah Helena ernst an. „Es gibt Geschichten über seltsame Methoden, fragwürdige Techniken. Einige seiner ehemaligen Patienten berichteten von intensiven und verstörenden Sitzungen, die mehr nach Folter als nach Therapie wirkten. Und dann die Todesfälle – es war, als hätten diese Patienten eine Grenze überschritten, die sie sich selbst nicht mehr erklären konnten.“
Helena fühlte eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit. „Ich muss mehr darüber herausfinden. Gibt es jemanden, der mehr darüber weiß?“
Anna nickte langsam. „Es gibt eine Frau, die früher bei Dr. Falk gearbeitet hat – Dr. Lena Weber. Sie war eine der wenigen, die sich jemals gegen ihn ausgesprochen haben. Doch seit dem Rückzug von Falk ist sie verschwunden. Manche sagen, sie sei untergetaucht, andere glauben, Falk habe sie zum Schweigen gebracht.“
Helena spürte, dass sie eine wertvolle Information erhalten hatte. „Wo kann ich sie finden?“
Anna schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht genau. Aber sie wurde zuletzt in der alten Bibliothek gesehen, die am Rande der Stadt liegt. Es ist ein verlassener Ort, aber vielleicht findest du dort Hinweise.“
Helena bedankte sich bei der Frau und stand auf. „Danke, Anna. Du hast mir sehr geholfen.“
Anna lächelte schwach. „Pass auf dich auf, Helena. Und sei vorsichtig mit dem, was du herausfindest.“
Helena verließ den Park mit einem neuen Ziel vor Augen. Sie musste Dr. Lena Weber finden und mehr über Dr. Falks Vergangenheit erfahren. Doch je tiefer sie in die dunklen Geheimnisse eintauchte, desto mehr spürte sie, dass sie selbst ins Visier eines gefährlichen Spiels geraten war.
Als sie die alte Bibliothek erreichte, fiel ihr Blick auf das verfallene Gebäude. Die Fenster waren zerbrochen, und das Dach wies zahlreiche Löcher auf, durch die Regenwasser eindrang. Trotzdem beschloss sie, das Risiko einzugehen. Vielleicht gab es dort noch Überreste der Vergangenheit, die sie aufdecken konnte.
Helena drückte die Tür, die überraschend leicht aufging, und betrat das Innere der Bibliothek. Das Licht war schwach, und der Geruch von Moder und alten Büchern lag in der Luft. Sie zog ihre Taschenlampe hervor und begann, den Flur entlangzugehen, wobei ihre Schritte in den leeren Hallen widerhallten.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch – ein leises Kratzen, als ob jemand sich leise bewegte. Ihr Herz raste, und sie blieb stehen, lauschte angestrengt. Das Geräusch kam aus dem hinteren Teil der Bibliothek. Mit zitternden Händen schaltete sie die Taschenlampe ein und bewegte sich vorsichtig auf das Geräusch zu.
Am Ende des Flurs entdeckte sie eine halb geöffnete Tür. Sie schob sie langsam auf und trat in einen kleinen Raum, in dem nur wenige Möbelstücke und ein verstaubter Schreibtisch standen. Auf dem Tisch lag ein altes Notizbuch, dessen Seiten brüchig und vergilbt waren.
Helena ging näher heran und öffnete das Notizbuch. Die Einträge waren chaotisch und unzusammenhängend, aber eines stach hervor: „Experiment X – Fortschritt steht unter mysteriösem Vorzeichen. Patienten reagieren unvorhersehbar. Muss weiter beobachten.“
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. „Experiment X?“, flüsterte sie. „Was hat Dr. Falk gemacht?“
Plötzlich hörte sie ein leises Geräusch hinter sich. Sie drehte sich schnell um und erblickte eine Gestalt im Türrahmen – Dr. Lena Weber. Ihr Gesicht war blass, die Augen weit aufgerissen vor Angst.
„Helena,“ flüsterte sie, „du musst sofort gehen. Dr. Falk hat herausgefunden, dass ich nachforsche. Er wird nicht zögern, mich zu eliminieren, wenn ich ihm im Weg stehe.“
Helena spürte Panik aufsteigen. „Was meinst du? Was hat er getan?“
Lena schüttelte den Kopf hastig. „Ich kann dir nicht lange erklären. Du musst Beweise finden, die ihn belasten. Aber Vorsicht – er ist überall, und er beobachtet dich. Wenn er dich entdeckt, wird es nicht gut für dich enden.“
Bevor Helena etwas erwidern konnte, hörte sie das Geräusch von Schritten, die sich dem Raum näherten. „Wir müssen hier weg,“ sagte Lena hastig und griff nach Helens Hand.
Die beiden Frauen rannten die Treppen hinunter, die immer wieder zusammengebrochen waren, und stürmten hinaus in die frische Luft. Der Regen hatte wieder eingesetzt, und sie verschwanden in der Dunkelheit der Nacht, verfolgt von der allgegenwärtigen Bedrohung durch Dr. Falk.
Helena wusste, dass sie nun tiefer in das gefährliche Spiel hineingezogen war, das Dr. Falk entfaltet hatte. Aber sie war entschlossen, die Wahrheit ans Licht zu bringen – koste es, was es wolle.
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Spiegel der Seelen
SonstigesIn dieser düsteren Psychothriller-Geschichte ist Helena eine entschlossene Ermittlerin, die gegen ein mächtiges Verbrechernetzwerk kämpft, das von einem mysteriösen und brutalen Anführer, dem "Grafen", geleitet wird. Zusammen mit ihrer Verbündeten L...