Kapitel 6: Der Pakt

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Helena und Dr. Lena Weber schafften es, sich in einer kleinen Pension am Stadtrand zu verstecken, deren schäbige Fassade sie vor neugierigen Blicken schützte. Sie waren außer Atem und zitterten, sowohl von der Kälte als auch von der intensiven Anspannung. Das Adrenalin der Flucht hallte noch immer in Helena nach, aber sie wusste, dass dies nur ein Vorgeschmack auf das war, was noch kommen würde.

„Er wird nach mir suchen,“ flüsterte Lena, ihre Stimme kaum hörbar, während sie an der kleinen Kaffeemaschine in der Ecke der Pension eine Tasse Kaffee zubereitete. Ihre Hände zitterten, und sie warf ständig nervöse Blicke zur Tür. „Falk lässt niemanden gehen, der seine Geheimnisse kennt.“

Helena nickte langsam, ihre Gedanken rasten. „Lena, du musst mir alles sagen. Was hat er wirklich getan? Welche Art von Experimenten hat er durchgeführt? Ich habe das Gefühl, dass ich nur an der Oberfläche kratze.“

Lena nahm einen tiefen Schluck Kaffee und atmete scharf aus, als ob sie den Mut zusammennahm, sich an Erinnerungen zu wagen, die sie seit Jahren zu verdrängen versuchte. „Dr. Falk… er hat immer geglaubt, dass die meisten Menschen eine Dunkelheit in sich tragen, die sie selbst nicht begreifen. Für ihn war das keine Therapie, sondern eine Art… Jagd nach dieser Dunkelheit. Er wollte sie freisetzen.“

Helena sah sie entsetzt an. „Was meinst du damit? Wie hat er diese Dunkelheit ‚freigesetzt‘?“

„Er führte eine Methode durch, die er ‚Induzierte Katharsis‘ nannte,“ erklärte Lena leise. „Er zwang seine Patienten, sich ihren tiefsten, dunkelsten Schuldgefühlen zu stellen. Manche waren traumatisiert, andere waren einfach nur verzweifelt. Doch für Falk war das nur der Anfang. Wenn er sie erst in diesen Zustand versetzt hatte, begann er, sie zu manipulieren. Er redete ihnen ein, dass ihre Gedanken und Ängste real wären – dass sie tatsächlich zu dem fähig wären, was sie sich in ihren Albträumen vorstellten.“

„Aber… wozu?“ fragte Helena mit belegter Stimme.

Lena sah Helena direkt in die Augen. „Er war überzeugt, dass er den perfekten ‚Patienten‘ erschaffen könnte. Jemanden, der vollständig von seinen inneren Dämonen beherrscht wird und nicht in der Lage ist, sich gegen sie zu wehren. Wenn er Erfolg hatte, würde der Patient… naja, er würde entweder wahnsinnig werden oder… Schlimmeres.“

Ein Schauer lief Helena über den Rücken. „Du meinst, er hat sie dazu gebracht, sich selbst oder andere zu verletzen?“

Lena nickte, ihre Augen voller Schrecken und Reue. „Ja. Und diejenigen, die nicht an den Rand des Wahnsinns getrieben wurden, fielen in eine Art apathischen Zustand, aus dem sie kaum je wieder aufwachten. Es war, als ob er ein Programm in ihnen installiert hätte, das sie dazu brachte, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Ich weiß nicht, wie er es tat, aber er hatte eine unheimliche Macht über seine Patienten.“

„Und warum hast du es niemandem erzählt? Warum hast du ihn nicht gestoppt?“ fragte Helena, der ein bitterer Unterton in die Stimme schlich.

Lena wandte den Blick ab und kämpfte sichtbar mit sich. „Ich wollte es. Aber er… er hat mich eingeschüchtert. Falk hat eine Art, Menschen zu manipulieren, dass sie sich hilflos und verloren fühlen. Ich wollte entkommen, aber er hat mich stets daran erinnert, was mit denen passiert, die ihm im Weg stehen.“

Helena sah Lena an und spürte, dass sie die Wahrheit sagte. Doch gleichzeitig war sie ungeduldig. „Wir müssen ihm das Handwerk legen. Es gibt sicher Beweise, irgendetwas, das ihn überführt. Patientenakten, Notizen, Aufzeichnungen – irgendetwas, das seine Methoden dokumentiert.“

Lena schwieg und sah zu Boden. „Es gibt eine Akte. Sie ist sein größtes Geheimnis, und er bewacht sie wie seinen Augapfel. Die Akte enthält Protokolle der ‚Erfolge‘, wie er es nennt – von den Menschen, die er vollständig zerstört hat. Wenn wir diese Akte finden, könnten wir ihn endgültig zu Fall bringen.“

„Wo bewahrt er sie auf?“ fragte Helena sofort, die Entschlossenheit in ihrer Stimme unüberhörbar.

Lena zögerte, als ob sie fürchtete, die Wahrheit auszusprechen. „In seinem privaten Büro. Nicht in der Praxis, sondern in einem abgeschotteten Bereich in seiner Villa. Ich war einmal dort, als er mich zur Besprechung eines Falls einlud. Ich weiß noch, dass er einen Tresor hat, der nur durch eine komplexe Kombination zu öffnen ist.“

Helena nickte langsam, ihre Gedanken begannen, sich zu einem Plan zu formen. „Wir müssen in diese Villa einbrechen und die Akte holen. Das ist unsere einzige Chance.“

Lena sah sie erschrocken an. „Das ist Wahnsinn! Falk wird uns töten, wenn er uns erwischt.“

„Dann müssen wir dafür sorgen, dass er uns nicht erwischt,“ erwiderte Helena mit fester Stimme. „Lena, wir haben beide zu viel Angst vor ihm. Aber genau das ist es, was ihn so mächtig macht. Wenn wir ihm nicht entgegentreten, wird er immer weitermachen – und wer weiß, wie viele Leben er noch zerstören wird.“

Lena sah Helena an, und allmählich wich die Angst in ihrem Blick einer neuen Entschlossenheit. „In Ordnung,“ flüsterte sie schließlich. „Wir tun es. Aber wir müssen vorsichtig sein.“

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Am Abend begannen Helena und Lena, die Vorbereitungen für den riskanten Einbruch in Dr. Falks Villa zu treffen. Sie suchten sich eine Ausrüstung zusammen – Taschenlampen, Handschuhe und Notizen über den Grundriss der Villa, den Lena in einem alten Stadtarchiv gefunden hatte. Die Villa lag am Rande der Stadt, umgeben von dichten Bäumen und nur schwer einsehbar.

Helena sah auf die Uhr. Es war 2 Uhr morgens, die Stadt schlief, und nur das leise Summen der Straßenbeleuchtung durchbrach die Stille der Nacht. „Bist du bereit?“ flüsterte sie Lena zu, die neben ihr stand, ihre Hände zitternd, aber ihre Augen entschlossen.

Lena nickte. „Lass es uns schnell hinter uns bringen.“

Sie näherten sich vorsichtig dem großen Eingangstor, das zur Villa führte. Es war verschlossen, aber Helena hatte daran gedacht, ein einfaches Werkzeugset mitzunehmen, um das Schloss zu knacken. Sie arbeiteten still und effizient, und nach einigen Minuten öffnete sich das Tor mit einem leisen Klicken.

„Gut,“ murmelte Helena und bedeutete Lena, ihr zu folgen. Sie bewegten sich durch die Schatten, bis sie die großen Fenster erreichten, die zum Wohnzimmer führten. Glücklicherweise war eines der Fenster angelehnt – vielleicht eine Unachtsamkeit oder eine Einladung, die Falk bewusst hinterlassen hatte. Doch darüber wollten sie in diesem Moment nicht nachdenken.

Sie schlichen ins Haus und fanden sich in einem düsteren Flur wieder. Alles war still, und der schwere Duft alter Bücher und teurer Zigarren hing in der Luft. Helena deutete auf das Ende des Flurs, wo Falks Büro sein musste.

Als sie die Tür zum Büro öffneten, sahen sie, dass der Raum dunkel und unordentlich war. Überall lagen Papiere verstreut, und an den Wänden hingen verschiedene Gemälde und medizinische Zertifikate. Doch in einer Ecke stand ein massiver Tresor – kalt, unüberwindbar.

„Das ist er,“ flüsterte Lena, und ihre Stimme bebte.

Helena ging zum Tresor und versuchte, ihn zu öffnen, doch er war mit einem Zahlencode gesichert. „Hast du irgendeine Ahnung, wie der Code lauten könnte?“ fragte sie Lena.

Lena dachte nach, dann flüsterte sie: „Er war immer fasziniert von bestimmten Zahlen… 3, 6, 9 – die Zahlen, die er als ‚Dreieinigkeit der Dunkelheit‘ bezeichnete. Versuch diese Reihenfolge.“

Mit zitternden Fingern gab Helena den Code ein: 3-6-9. Ein leises Klicken ertönte, und der Tresor öffnete sich.

Darin lag eine Akte, dick und verstaubt, mit dem Titel „Experiment X“ in großen, handschriftlichen Lettern. Helena nahm sie heraus und öffnete sie. Die Seiten waren gefüllt mit detaillierten Notizen über Patienten, ihre Verhaltensmuster, ihre Albträume – und die Methoden, mit denen Falk ihre tiefsten Ängste in die Realität verwandelt hatte.

„Das ist es,“ flüsterte Lena, als sie die Akte durchblätterte. „Das ist sein ganzes Werk. Hier steht alles.“

In diesem Moment hörten sie Schritte hinter sich. Langsam drehten sie sich um – und erblickten Dr. Falk, der im Türrahmen stand, mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen.

„Glaubt ihr wirklich, dass ihr mich so leicht überlisten könnt?“

Spiegel der SeelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt