F ü n f u n d v i e r z i g

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Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee hängt in der Luft, als ich zögerlich an der Glastür zu Nadines Büro klopfe. Seit Tagen schlafe ich schlecht. Es sind nicht nur die Albträume, die mich nachts wachhalten, und selbst der beste Concealer kann meine Augenringe nicht verstecken.

„Herein."

Nadine sitzt an ihrem großen Schreibtisch. Vor ihr stehen zwei Tassen, eine dampfende für sie, die andere leer. Als sie ihren Blick vom Bildschirm hebt und mich mit ihren eisblauen Augen fixiert, schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln.

Ein Lächeln. Von Nadine. 

Unwillkürlich beiße ich mir auf die Unterlippe. Das kann nichts Gutes bedeuten.

„Da bist du ja", sagt sie und deutet auf den Stuhl gegenüber.

„Tut mir leid, dass ich spät dran bin", murmele ich, während ich die Tür hinter mir schließe. Als ich heute Morgen die Einladung für den Termin in meinem Postfach entdeckt habe, musste ich mich erst einmal für zwanzig Minuten auf der Toilette verschanzen, um meinen nervösen Magen zu beruhigen – und um mir Mut einzureden, bevor ich mich schließlich hierher getraut habe.

„Schon gut. Setz dich." Nadine schiebt mir die leere Tasse zu und gießt Kaffee ein. Ich nehme einen Schluck, obwohl mein nervöser Magen dagegen rebelliert. „Ich muss dir etwas sagen, und ich will, dass du ruhig bleibst, okay?"

Mein Herz hämmert in meiner Brust, so laut, dass ich mich frage, ob Nadine es hören kann. „Was ist los?" Werde ich abgemahnt? Gefeuert? 

„Ich habe heute Morgen eine E-Mail von Kesslers Anwalt bekommen." Sie stützt sich auf ihre Ellenbogen, die Finger verschränkt, ihr Gesicht schwer zu lesen. „Er leitet rechtliche Schritte wegen Rufschädigung ein."

Kaffee schwappt über den Rand meiner Tasse. „Was?!" Schnell wische ich die Tropfen mit meinem Ärmel weg. 

„Es ist nicht sonderlich überraschend. Er versucht, dir Angst zu machen, dich einschüchtern." Nadine spricht mit einer Gelassenheit, die mich irritiert. „Männer wie Kessler tun das."

„Aber... ich habe nichts Unwahres geschrieben", sage ich, bemüht, ruhig zu bleiben.

„Das weiß ich, und das weißt du. Aber er wird jeden Satz deines Textes auseinandernehmen, um irgendetwas zu finden, womit er dich angreifen kann."

Ich presse die Lippen zusammen und starre auf die Tischplatte, ein Kloß bildet sich in meinem Hals. „Und wenn er etwas findet?"

„Dann", sagt Nadine und lehnt sich zurück, „wird das Ganze vor Gericht gehen. Ich habe deinen Artikel schon an unseren Juristen im Haus weitergeleitet."

Mein Atem geht flach. Die Wände scheinen näher zu rücken, die Decke drückt schwer auf meine Schultern, als wollte sie mich unter sich zerquetschen. Die Angst ein ständiges Summen in meinem Kopf, das immer lauter wird. Immer lauter, bis–

„Lena." Nadines Stimme holt mich zurück. „Das Wichtigste jetzt ist: keine Panik. Das ist genau das, was er will. Gib ihm diese Genugtuung nicht."

„Vielleicht hatte er aber recht", höre ich mich sagen. „Vielleicht hätte ich diesen Text nicht schreiben sollen. Vielleicht habe ich es zu weit getrieben."

„Lena, hör auf damit." Ihre Stimme ist streng, aber nicht unfreundlich. „Du hast nichts falsch gemacht. Er hat dich belästigt, er hat dich in eine Situation gebracht, in der du dich unwohl und bedroht gefühlt hast. So wie er es mit vielen seiner Mitarbeiterinnen gemacht hat. Du hast das Recht, darüber zu sprechen und ihre Geschichte zu erzählen."

Ich weiß, dass sie Recht hat. Aber es fühlt sich nicht so an. Ich atme tief durch, massiere mir die Schläfen. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich explodieren. „Ich weiß nicht, ob ich das kann, Nadine. Ich bin nicht wie du. Ich bin nicht... stark."

„Das ist Quatsch, und das weißt du." Nadines Stimme ist ruhig, aber sie lässt keinen Raum für Widerspruch. „Du bist stärker, als du denkst. Aber das heißt nicht, dass du das allein durchstehen musst."

Allein. 

Genau so fühle ich mich. Nadine ist eine gute Mentorin, aber keine Freundin. Pascale. Sie würde für mich da sein... Würde sie das wirklich? Und Nicole. Die Aussprache im Auto hat vieles verändert. Aber allein der Gedanke, ihr von meinem bei Familie Ritter so verpönten Job zu erzählen, lässt mich zusammenzucken. Außerdem... ich kann das Chaos in meinem Leben nicht auch noch zu ihrem machen. Und Elias? Bei ihm fühle ich mich sicher. Aber was bin ich für ihn? Es ist alles noch so frisch. Will ich wirklich, dass er mich so sieht, als Versagerin?

„Was soll ich jetzt tun?" frage ich schließlich, und ich hasse es, wie klein und verloren meine Stimme klingt.

Nadine beobachtet mich lange. „Sprich mit jemandem, dem du vertraust. Egal, wer es ist. Du brauchst Unterstützung."

Ich nicke, obwohl ich nicht sicher bin, ob ich jemanden finde, der mich versteht. Vielleicht Pascale. Vielleicht...

„Das ist kein Kampf, den du allein kämpfen musst."

Die Worte treffen mich – sie sind beruhigend, gleichzeitig beängstigend. Hilfe zu suchen bedeutet, sich Schwäche einzugestehen – und genau das war noch nie meine Stärke. Aber Nadine hat Recht. 

„Okay", sage ich schließlich. Ein einziges Wort, das einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt.

Ich erhebe mich, und als ich Nadines Büro verlasse, fühlt sich jeder Schritt schwer an. Der Korridor vor mir ist still, aber in meinem Kopf rauscht es. 

Was, wenn ich dem nicht gewachsen bin? Was, wenn das alles erst der Anfang ist?

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt