Quienne 1

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„Guten Abend, meine Damen und Herren, ich bin Quienne und ich werde Sie heute Abend unterhalten.", begrüßte ich die Menschenmenge im Saal. Die meisten schenkten mir keine Beachtung, ich war ja nur die Vorband. Was heißt eigentlich „Band"?

Ich war eher ein Gitarrenspieler, der die Leute hier in der Bar eine halbe Stunde lang unterhalten durfte. Auf einem billigen und ziemlich unbequemen Holzhocker. So hatte ich mir mein Leben ehrlich gesagt nicht vorgestellt. Mit siebzehn Jahren von Trinkgeld abhängig. Ich hätte in die Schule gehen sollen. Aber mein ganzes Leben schon fehlte mir das Geld dafür.

Aber haltet mich nicht für einen „Problemfall" oder so, dem man unbedingt helfen muss! Vergesst es einfach. Ich wollte noch nie Mitleid oder gar „Hilfe".

Alles, was ich wollte, war Geld. Richtig viel Geld am besten. Noch konnte ich mich über Wasser halten, in einer kleinen Wohnung, aber ich konnte nie wissen, wie es weiter gehen sollte. Ich war nie zur Schule gegangen, kein Geschäft würde mich nehmen.

Ich zupfte ein paar Mal an den Saiten, dann fing ich an, zu spielen. Etwas Langsames und trotzdem Kompliziertes, um die Zuschauer von meinem Talent zu überzeugen. Unmittelbar danach stimmte ich einige bekanntere Lieder an, bevor ich den eigentlichen Star ankündigen durfte. Die Menschenmenge klatschte aufgeregt, während ich die Bühne verließ und zur Ausgangstür eilte. Ich wusste nicht einmal, wer der Star war, den ich ankündigen durfte. Ich verließ die Bar mit eng um die Schultern geschlungenem Mantel, den Gitarrenkoffer liebevoll in beiden Händen haltend. Die Nächte waren kalt, der Winter war noch kaum vorüber. Im Dunkeln leuchteten die Werbetafeln und Beleuchtungen aller Art mir den Weg. Neben mir fuhren flimmernde Autos auf von Regen nassen Straßen. Den Weg nach Hause begann ich in einer U-Bahn. In meinem Stadtteil nützten Autos nicht viel; die Straßen waren eng und meistens überfüllt. Dort fuhren die meisten im Untergrund. Die U-Bahnschächte verliefen viele Kilometer weit und ich konnte bequem durch die gesamte Stadt fahren.

Okay, vielleicht nicht gerade bequem, aber schnell. Die Sitze waren unerträglich hart und alle redeten, telefonierten oder lachten, ich konnte mich nicht einmal auf mein eigenes Telefonat konzentrieren und musste mich schließlich entschuldigen und auflegen.

Aber die U-Bahn war günstig.

Schließlich konnte ich aussteigen. Inzwischen war es weit nach Mitternacht und ich sehnte mich schon nach meinem Bett. Müde ging ich im Slalom um die Menschen herum, bis ich endlich einen abgelegenen kleinen Schacht fand, in dem ich niemandem begegnen würde. In dem von kaltem Licht beleuchteten Gang stapfte ich direkt neben U-bahnschienen entlang. Jeder, der in meinem Stadtteil aufgewachsen war, wusste, wann man das konnte und wann eine U-Bahn kam. So auch ich.

Und so konnte ich mir sicher sein, dass ich nicht von einer überfahren wurde.

Also ging ich, meinen Gitarrenkoffer über die Schulter gehängt. Ich wusste genau, wo ich war, ich kannte jede Abkürzung und selbst, wenn die Lampen ausgefallen wären, hätte ich mich zurechtfinden können. Das machten sie auch nicht gerade selten. Ich kannte es einfach. Doch jetzt wollte ich nirgendwo hin, man erwartete mich auch nirgendwo. Ich war müde und meine Füße waren nach dem langen Laufen bleischwer, aber ich lief immer weiter, froh über die vollkommene Stille. Spontan entschied ich mich, einer kurzen Treppe hinauf zu einem kleinen Imbiss zu folgen. Bei meinem Auftritt heute Abend hatte ich mir ein Bisschen Geld verdienen können, welches ich nun für eine Portion Pommes und eine große Cola ausgab. Den Rest steckte ich in die Seite meiner Gitarrentasche.

Ich setzte mich an einen etwas abgelegenen Tisch und sah den vorbeifahrenden Autos zu, während ich aß.

Als die ersten Laternen am Morgen ausgingen, steckte ich mir die letzte Pommes in den Mund und verschwand wieder durch einen U-Bahnschacht in Richtung zuhause.

Hatte ich schon mal von meinem Zuhause erzählt? Meine Wohnung war nichts Besonderes. Es war eine normale Ein-Mann-Wohnung. Nicht sehr groß, aber für mich alleine reichte es. Und ich konnte mich auf sie verlassen. Seit ich vor zwei Jahren eingezogen war, war nichts mehr kaputt gegangen. So kam zu meinen Geldsorgen nur noch die Miete, doch auch die war angemessen. Aber meine Wohnung lag am Rand der Stadt. So weit weg von den Clubs, in denen ich normalerweise arbeite, wie nur möglich. Ich musste lange laufen, weil um diese Uhrzeit keine U-Bahn mehr fuhr. Ich lief immer in dem Untergrund, einfach, weil ich es konnte. Ich wollte mich nicht in den überfüllten Straßen durch die Menschenmassen kämpfen. Hier unten hatte ich meine Ruhe.

Das kalte Licht erleuchtete den großen Tunnel vollständig und ließ mich auf den einzigen runden und rauchfarbenen Stein zwischen den braunen Stein aufmerksam werden.

Er war nicht besonders groß. Vielleicht handtellergroß, höchstens, und eher flach. Im Grunde nichts Besonderes. Aber zwischen Ziegeln... Da musste irgendwer wirklich Mist gebaut haben. Umso mehr wunderte ich mich, als der Stein aus der Mauer rutschte und auf den Boden fiel.

Einen Moment lang starrte ich ihn nur an.

Meine Freundin hatte mir einmal von Schicksal erzählt. Es wäre Schicksal gewesen, dass ich gerade sie auf der Party getroffen hatte, inmitten all der hübschen Frauen. Es war Schicksal, denn ich wollte erst nicht zu der Feier gehen, weil mir ein besserer Job angeboten wurde, in einem schicken Café.

Doch im letzten Moment hatten sie sich um entschieden und den professionellen Klavierspieler angestellt. Auch Jahre, nachdem sich meine Freundin von mir getrennt hatte, glaubte ich noch an Schicksale und dass irgendeine höhere Macht mein Leben bestimmte. Ich entschied mich manchmal aufgrund eines Zufalls spontan für etwas und bisher hatte es sich nie als Fehler herausgestellt.

So auch hier.

Es war nur ein Stein und trotzdem hob ich ihn auf.

Es konnte ja irgendetwas wegen ihm passieren.

UnendlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt