Kapitel 1. Ayira

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Nun ist es genau eine Woche her. Sieben Tage und Nächte sind vergangen, seid wir Jael von uns gehen lassen mussten. Die letzten gemeinsamen Minuten mit ihm, seine geflüsterten Worte, laufen jedes Mal wie ein Film vor meinem inneren Auge ab. Genau dann, wenn ich versuche zu schlafen. Fast als spüre ich seinen Geist in mir. Vielleicht will er mir noch etwas auf diesem Wege mitteilen und ist nicht bereit loszulassen. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto absurder kommt mir das alles vor.

"Du schläfst noch nicht", stellt Yaris fest und reißt mich so mitten aus meinen Überlegungen. Kurz überlege ich einfach ruhig da zu liegen und so zu tun, als würde ich bereits schlafen. Doch das wäre vergebens. "Du denkst zu viel nach, Ayira. Konzentrier dich ..." "...aufs hier und jetzt", setze ich seufzend fort und setze mich langsam auf. Die Decke, die wir uns mühsam aus verschiedenen Stoffen zusammengesammelt und genäht haben, ziehe ich weiter über meine Schultern und vergrabe mein halbes Gesicht darin. Bevor ich auch nur ansatzweise ein Wort von mir geben kann, legt Yaris seinen Zeigefinger auf seine Lippen. Ich atme tief aus und schlucke meine Worte also wieder hinunter. "Du musst dich nicht erklären. Ich weiß bescheid. Du träumst viel." Fragend schaue ich ihn an und runzel meine Stirn. "Du redest im Schlaf, zwar nuschelnd, aber deutlich genug das ich es verstehe, kleine Schwester." "Kommst du nun wieder mit der Geschwisternummer? Nur, weil du oft weißt was ich denke, heißt das noch lange nicht das du meine Gedanken lesen kannst." Um seine Mundwinkel herum vernehme ich, in dem flackernden Licht unseres kleinen Feuers, ein verschmitztes Lächeln. Kaum hat er es geschafft mich auch zum Lächeln zu bringen, durchschaue ich ihn. Er lenkt mich ab. Mit Erfolg. Eine kurze Minute hab ich all die Gedanken um Jael herum vergessen. Besser lasse ich ihn in dem Glauben, das er weiterhin damit durchkommt. "Nun gut. Du hast gewonnen. Du hast mich zum Lachen gebracht. Zufrieden?" Nickend stochert er mit einem Stock in den bereits ausgehenden Flammen herum. "Wenn du nicht schläfst, dann tu ich es, Ayi. Wir brauchen jede kostbare Sekunde, jetzt wo Jael ..." Er verstummt. Einen kurzen Moment lang erahne ich seine wahren Gefühle hinter seiner Fassade. "Wir sind aktuell nur noch zu zweit, was bedeutet das wir uns mit dem Schlaf abwechseln." Prompt legt er sich auch schon auf die Seite. Den Rucksack neben ihm zieht er nah an sich und bettet seinen Kopf darauf.

Ich beobachte meinen Bruder noch eine Weile. Seine Brust hebt und senkt sich bei jedem Atemzug. Er scheint eingeschlafen zu sein. Meine Gedanken können also wieder ihren Lauf nehmen, ohne dass er es bemerkt. Mein Blick wandert von dem glimmenden Holz des Feuers in Richtung Himmel. Keine Wolke ist dort oben zu sehen. Jeder einzelne Stern strahlt. Fast als würden sie untereinander Wetteifern, wer der Hellste ist. Dort oben scheint alles im Einklang zu sein. Nahezu perfekt. Angeblich war es das hier auf der Erde auch mal. Und nun müssen Yaris und ich jeden Tag aufs neue Überleben.

Vorsichtig öffne ich meinen Rucksack und finde, in einem kleinen Fach an der Seite, genau das was ich suche. Ein kleines Buch. An dem Tag als Jael von uns ging, nahmen wir seine Sachen an uns. Doch das er dieses Buch in einer Innentasche von seiner Jacke eingenäht hatte, wusste nur ich. Es war Zufall. Mein Bruder und ich sahen ihn oft darin lesen und Notizen machen, natürlich nur, wenn wir beide eigentlich schliefen. Immer dann, wenn wir ihn danach fragten, schwieg er. Ich musste dieses Geheimnis um Jael also an mich nehmen. Und jetzt halte ich es hier in meinen Händen. Es sieht nicht gerade besonders aus. Abgegriffen und einige Seiten sind bereits vergilbt. Es ist gerade so groß, dass es in meine Handfläche passt.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 25, 2015 ⏰

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