Kapitel 4

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Inzwischen hatte sich fast automatisch ein Halbkreis um Miss Yela gebildet. Zufrieden blickte sie um sich und nickte. Plötzlich schob sich eine Wolke vor die Sonne, es wurde augenblicklich düster. Die Atmosphäre hatte etwas Unheimliches an sich, deswegen kuschelte ich mich in meine Jacke. "Danke, für eure Aufmerksamkeit", meinte sie, "Da ihr in einem Halbkreis steht, gehe ich davon aus, dass mich jeder sehen kann. Liege ich richtig?" Zustimmendes Nicken und Murmeln von den Schülern. Sie lächelte sanft.
"Auch wenn es alle schon wissen, würde ich gerne ein paar Dinge, als Einstieg, wiederholen", begann sie, "Setzt euch bitte hin und hört einfach zu."

Zauberer sahen den Menschen schon immer ähnlich. Dennoch gab es bei jedem Zauberer ein oder mehrere Merkmale, die ihn von einem Menschen unterschieden. Jedoch wussten die meisten Zauberer nicht, dass sie ein Unterscheidungsmerkmal gemeinsam hatten: Ihr letztes Blut. Egal ob Mensch oder Zauberer der Moment des Todes ist ein Moment, den man kein zweites Mal erlebt. Es gibt keinen Moment, der unsere Gedanken und Emotionen so beeinflusst. Viele Dinge werden uns bewusst, andere bleiben für immer verschwiegen. Doch es gibt Dinge, die wir nicht begraben können. Unser Gewissen. Die Zauberer waren geschockt als sie "Die Blüte der Seele" zum ersten Mal sahen.

Ab diesem Teil konnte fast jeder Zauberer mitsprechen. Die Sage der ersten Blüte des Gewissens Die Stimmen vermischten sich in meinem Kopf. Die Welt vor mir verschwamm. Verzweifelt stützte ich mich am Boden auf. Ich krallte mich mit meinen Fingern am Gras. Und plötzlich hörte ich Kampgeschrei.
"Es war ein kalter Winternachmittag", zischte eine Stimme, " Draußen tobte ein Sturm, doch lauter war das Gebrüll des Krieges. Der Angriffsschrei, das Siegesgejauchze und der verzweifelte" Die Stimme lachte schadenfroh. "Der verzweifelte letzte Atem der Gefallenen!" Ich kannte die Geschichte, aber es war als würde ich selbst auf dem Feld stehen, die Geräusche dröhnten in meinen Ohren. Und dann war noch diese Stimme. Diese vertraute, böse, durchtriebene Stimme. Sie begann, weiter zu erzählen:"Die gefallenen Zauberer lagen regungslos und scheinbar unverletzt am Boden. Noch nie war ein Zauberer durch ein Schwert getötet worden. Sie starben durch die inneren Verletzungen, gegen die sie sich zu spät gewehrt hatten oder durch menschliche Krankheiten." Die Stimme klang gelangweilt, als könne der Tod ihr nichts anhaben. "Doch dieser kalte Kampf im Winter würde die Geschichte verändern! Denn ein Zauberer, Julian war sein Name, hatte seinen Zauberstab verloren. Er konnte nicht mit den Gedanken zaubern, noch war er fähig dies mit seinen Händen zu tun. Ohne Zauberstab war er machtlos. Alles was er noch hatte war ein einfacher Dolch, aus der Menschenwelt. Ein Angreifer kam sicheren Schrittes auf ihn zu." Die Stimme lachte wieder. "Aber da! Da zückte Julian seinen Dolch und stach ihm mitten. " Die Stimme machte eine Spannungspause. "Mitten ins Herz." Jetzt lachte die Stimme, als gäbe es nichts schöneres, amüsanteres als den Tod eines Menschen. Mein Magen verkrampfte sich bei dem bösen Lachen und mein Herz zog sich zusammen. Ich wollte schreien, aus diesem Kampf fliehen, die Stimme vergessen. Aber es war zwecklos. "Als sich das Schwert in das Herz gebohrt hatte, tropfte langsam Blut auf den schneebedeckten Boden. Und nach genau 47 Sekunden begann dort eine rote Rose hervorzusprießen. Rot, wie all das Blut, dass der Soldat vergossen hatte. Der Kampf hörte augenblicklich auf, denn es war ein Wunder geschehen. Die erste Blüte des Gewissens war entdeckt worden. Hat dir die Geschichte gefallen?" Wieder setzte das grauenvolle Lachen ein. Doch es wurde leiser, sanfter, lieblicher, höher, bis ich nur mehr die Stimme von Miss Yela höhrte:"Seit jenem Tag können wir Zauberer in den Rosen an ihrer Form und Farbe ablesen, ob der Zauberer schlechte Taten begangen hat oder wie er sich im Moment des Todes gefühlt hat. Dieses Erkennen werdet ihr hier lernen! Ich freue mich, euch als meine Schülerinnen und Schüler begrüßen zu dürfen." Wie hypnotisiert spendete ich mit den anderen Applaus. Warum sprach diese Stimme immer mit mir? Wer war diese Person hinter der Stimme? Vielleicht sollte ich dieses seltsame Erlebniss einfach vergessen und mich besser auf den Unterricht konzentrieren. Den ganzen Nachmittag war ich übereifrig und auf den Stoff fokusiert, dass ich nicht mehr an die Stimme denken musste. Doch als die Glocke nach der zweiten Stunde psychische Zauber klingelte, ging ich noch einmal zu Professor Fellador. "Herr Professor, ich hätte da eine Frage", sagte ich schüchtern. "Was willst du wissen Chica?", fragte er mit seinem spanischen Akzent. "Ist es möglich, einen anderen Menschen so zu beeinflussen, dass er eine Stimme oder Botschaft in seinem Kopf hört. " "Hörst solche Stimmen?", fragte er. "Nein, nein!", meinte ich lachend, "ich habe nur etwas ähnliches gelesen!" "Nun ja", seuftzte er und murmelte etwas auf Spanisch, "Man muss sehr viel Erfahrung damit haben und selbst dann ist es außerordentlich schwierig. Du brauchst sehr viel Konzentration, darfst dich nicht ablenken lassen und vor allem musst du die Person kennen oder eine gute Beziehung zu ihr haben. In welchem Buch hast du das gelesen, Chica?" "Gibts nicht in der Schulbibliothek", rief ich und sprintete zur Tür.

Hektisch rannte ich durch die Gänge, einmal links, dann rechts, ohne Ziel. Zu Kelly wollte ich nicht, ich brauchte meine Zeit zum alleine sein, denn dieser Tag hatte mich fertig gemacht. Warum konnte mich diese Stimme nicht in Ruhe lassen? Erschöpft ließ ich mich auf den kalten Marmorboden sinken. Ich stützte den Kopf in meine Hände und war den Tränen nahe. Warum machte mich diese Stimme so fertig? "Geh weg! Bitte geh! Ich bilde mir das nur ein! Nein, lass mich in Ruhe!", hörte ich ein Flüstern, "es... du lügst! Einbildung! Reine Einbildung! Es ist unmöglich." Ein Schluchzen erklang vom Ende des Ganges. "Hab ich nicht schon genug mitgemacht? Das ist meine Psyche, die Erinnerung. Sie sind tot. Beide. Tot. Sie können nicht leben!!!" Ich hörte ein Rascheln. Langsam schlich ich mich in Richtung Ende des Ganges. Ein Junge der Oberstufe oder schon Student saß verzweifelt auf dem Boden. Um die Ecke sah ich einen Schein huschen. Da kam es mir in den Sinn. Das Mädchen, das mir am ersten Tag geholfen hatte!
"Warte!", rief ich ihr hinterher, doch sie war schon verschwunden. "Du siehst sie?", fragte der Junge. Er hatte blondes Haar, tiefbraune Augen und war komplett in schwarz gekleidet. Ich nickte verwirrt. "Ist das seltsam?", fragte ich zurück. Er stand auf, schüttelte sich, klopfte den Staub von seiner Hose und musterte mich skeptisch. "Warst du vorher im Gang?", knurrte er. "Ja", gab ich zu. Er meinte:"Das hier bleibt unter uns, verstanden? Ansonsten könnte das böse enden." Ich nickte, dann lief ich auf mein Zimmer. Kelly saß auf ihrem Bett und lackierte sich gerade die Nägel neongrün. Ein Funken Normalität. Endlich.

Die Dornen - Black Roses Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt