Tag30: an dein Spiegelbild

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Hey Marieke.

Schau dich nur an. Was hast du nur für eine Veränderung von der Grundschule zum Gymnasium hinter dir. Du warst damals der kleine, süße Lehrerliebling. Du hast oft auch mal die Klappe gehalten, um nichts falsches zu sagen, damit du bei allen gut da stehst und es dir mit niemandem verdirbst. Heute bist du immer ehrlich, du scheißt drauf, wenn einem deine Meinung nicht passt oder dich nicht leiden kann. Du bist schlagfertiger und frecher geworden. Aber meist nur wenn es dir komplett egal ist ob ihr eventuell Freunde werden könntet oder euch generell schon länger kennt. Kennst du jemanden noch nicht, der dir aber sympathisch erscheint, bist du grundsätzlich sehr offen und sozial. Ansonsten bist du immer noch schüchtern, vor allem älteren gegenüber. Warum traust du dich nicht mal, sie anzuschauen wenn man sich auf dem Schulflur über den Weg läuft?

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Auch dein Musikgeschmack hat sich geändert. In der Grundschule: Mainstream-Musik, das fanden ja alle cool. Heute: Musik die keiner kennt, ganz viele Bands von früher, Bands, die es nicht mehr gibt, Grunge und HipHop/Rap. Und Ed Sheeran, als einer der wenigen, die aus diesem Raster fallen, weil er wirklich noch gute Musik macht und richtig schön singen kann und nicht irgendwelche billigen Elektrobeats zusammenklumpt, die einem schon nach 'ner halben Minute extrem auf den Nerv gehen.

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Du schläfst unter der Woche meist später als du eigentlich vor hast, auch wenn du viel Schlaf brauchst und du sehr gern schläfst. Du liegst wach, weil du stundenlang nachdenkst, ein gutes Buch liest oder interessante/unterhaltsame Konversationen führst. Dann knüllst du deine Lichterkette neben dir auf deinem Allergiker-Kopfkissen zusammen, damit du Licht zum Lesen oder Schreiben hast. Dann betrachtest du deine brüchigen Fingernägel und nimmst dir vor, sie mehr zu pflegen. Später träumst du meist etwas Sinnloses oder Verrücktes; oder aber du erinnerst dich nicht an deinen Traum. Du überlegst dir, wann du deine Haare waschen musst, damit sie dann und dann gut aussehen.

Tagträume bei dir sind Szenarien, die passieren könnten, und zwar aus allen möglichen Betrachtungswinkeln; also quasi alles, auch wenn das meiste sowieso vollkommen irrsinnig und extrem unwahrscheinlich ist.

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Du bist ein großer Fan von großartiger Poesie und schönen Wörtern; außerdem liebst du Zitate, gerne auch komplizierte. Na, hast du gerade eins auf Lager, so ganz spontan? Natürlich hast du eins. „Alles was gut ist, ist letztlich doch Gift" [Gift - Prinz Pi]

Du hast auch fast immer einen Ohrwurm, weil du quasi 24/7 Musik hörst. Käpt'n Peng ist die Musik-Entdeckung deines Lebens.

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Du tust manchmal Dinge, die dir wahrscheinlich nicht so gut tun. Joggen im Frühling an der Spree, wenn alles blüht. Du bist ja schließlich Pollenallergiker. Du hast gegen so vieles eine Allergie, was du dermaßen zum Kotzen findest. Und noch beschissener findest du es dann, wenn sich Leute darüber lustig machen. Die meisten verstehen aber einfach nicht, was an Asthma so schlimm sein soll. Oder sie wissen noch nicht einmal, was Asthma ist. Hier kommt die Erklärung: Asthma ist aus dem Grund scheiße, weil du fast immer und überall auf alles mögliche Acht geben musst und das Gefühl, keine Luft zu kriegen, einfach mal eins der beschissensten Gefühle der Welt ist.

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Du trainierst den ausgeglichenen Gesichtsausdruck, der jegliche Emotionen verbirgt... Das funktioniert irgendwie aber auch nur bei deinen Eltern. Vor deinen Freunden kannst du dich meist nicht verstecken; dann zeigst du, dass du wütend oder traurig bist. Oder du kannst nicht mehr an dich halten, wenn dir gerade etwas in den Sinn kommt und du einfach anfängst zu lachen. Oft auch ohne ersichtlichen Grund.

Du bist so ein positives Mädchen. Du bist fast immer so fröhlich. Auch wenn gewisse Umstände dich verändert haben und du melancholischer bist als früher, hast du doch eine positive Aura. Ich bin stolz auf dich, wenn du eine traurige Freundin aufmuntern kannst, einfach nur, weil du so bist wie du bist. Wenn du anfängst, über irgendetwas sinnloses laut loszulachen, ziehst du deine Freundinnen meistens mit. Dann lacht ihr gemeinsam zum Beispiel über ein metallenes Windrädchen, das ununterbrochen quietscht. :D

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In deiner Stadt kennst du quasi jeden. Du neigst zu Hyperbeln. Und zu gehobener, komplizierter Ausdrucksweise. Du und deine Freunde, ihr habt seltsame Rituale, wie zum Beispiel das Fragen nach der Uhrzeit.

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Würde ich dich eigentlich mögen, wenn ich dich kennenlernen würde? Sähe ich in dir eine ‚Verbündete' und Gleichgesinnte, die genauso tickt wie ich und ich mich mit dir deshalb super gut verstehen würde? Oder würdest du mir einfach nur auf die Nerven gehen?

Nun ja, das bleibt letzten Endes doch offen, denn du bist nur mein Spiegelbild und wirst nie etwas anderes machen als ich, wodurch wir nie ins Gespräch kommen werden. Shit happens.

Marieke][ekeiraM

30 Briefe an 30 Tagen [Abgeschlossen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt