Prolog

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Erlaubt es mir, mich vorzustellen.

Obwohl wir uns ohnehin schon einmal getroffen haben.

Wisst ihr noch, bei eurer Geburt?

Nein?

Nun gut, wir werden uns gewiss früher oder später noch einmal treffen.

Nämlich, wenn ihr ins Grass beisst.

Der Name, den ihr Menschen mir gegeben habt, ist Gott. Doch ihr habt ein völlig falsches Bild von mir.

Ich mische mich nicht in euer Leben ein. Es interessiert mich, ehrlich gesagt, auch nicht.

Doch manchmal seid ihr Menschen unheimlich dumm. Zum Beispiel die Bibel? Kann man wegschmeissen. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso das Menschen überhaupt Glauben. Ich meine, ich kannte Jesus. Ich habe ihm das Licht gegeben und genommen.
Er war ein Imposanter Mensch. Ein "Celebrity" würdet ihr ihn wohl heutzutage nennen.
Doch da war rein gar nichts übernatürliches an ihm. Er hatte nur gelegentliche Wahnvorstellungen, denen jetzt Milliarden von Menschen folgen. Aber nun gut. Ist nicht mein Problem.

Ich bestimme ja nur eure Existenz.

Mein Name ist allerdings nicht Gott.
Mr. Thade Veil. So könnt ihr mich nennen.

Manchmal nehme ich Licht. Und manchmal gebe ich es. Das ist meine Berufung. Ich bin Tod und Leben zugleich. Überall und doch nirgends.

Menschenleben sind für mich nur Wimpernschläge. Mein Alltag ist eintönig. Nur selten, wenn ich wenig zu tun habe (weil gerade keine Seuche oder sonstiges ausbricht) schaue ich einem Menschen zu wie er Lebt.

Doch nie hätte ich gedacht, dass ich ein bestimmtes Leben so interessant finden würde, wie ihres.

Alice.

Ich habe sie niemals berührt. Und ich werde sie auch niemals berühren.

Manchmal stimmt es mich traurig, doch wenn ich wählen müsste würde ich mich für die jetztige Lage entscheiden.

Sie für alle Ewigkeiten von weitem anschauen dürfen oder sie zwei mal zu liebkosen und ihr emotionsloses, so hübsches Gesicht mit dem stetig desinteressiertem Blick und den unzähligen Sommersprossen dann nie wieder zu sehen. Ihr braunes, braves Haar nie mehr in einer leichter Brise wehen zu sehen.

***

Ich habe sie im Sommer vor fünfzehn Jahren zum ersten mal getroffen. Im August. Die Erinnerung an diesen Tag hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt;

Es ist heiss. Die Luft steht still und über dem Asphalt flimmert es. Keine Wolke ist am Himmel zu sehen, nur ein Flugzeug, welches man über den Lärm der dicht befahrenen Strasse nicht hört. Eine hochschwangere Frau steht am Strassenrand und schreit schluchzend in ihr Telefon. Ihr Gesicht ist rot und nass vom Schweiss und den Tränen, ihr braunes, lockiges Haar klebt in ihrem Nacken. Manche Menschen fahren in ihren hässlichen Kleinwagen langsam an ihr vorbei und starren, doch niemand hält an.

Der Frau rutscht das Handy aus den schweissnassen Händen und landet auf der Strasse, wo es in seine Einzelteile zerspringt.

Wütend schreit sie auf. Ihre Fäuste sind geballt, doch dann beruhigt sie sich plötzlich. Ihre Augenlider schliessen sich flimmernd und ihr angespannter Mund lockert sich zu einem Lächeln.

Sie öffnet die Augen mit einem irren Blick und lacht völlig von Sinnen.

Dann stürzt sie sich urplötzlich vor einen vorbeifahrenden Lastwagen.

Ihr Licht kommt praktisch auf mich zugeflogen, und ich nehme es mit offenen Armen auf. Sie ist schon tot, bevor ihr Körper vollständig auf den Boden auftrifft.

Blut spritzt über den Asphalt und versickert darin, sodass braune Flecken über die Strasse verteilt sind. Es wird von allen Seiten her gehupt, vereinzelt hört man entsetzte Schreie, irgendjemand ruft:
"Holt die Bullen, es ist verdammt ernst!"

Und mitten im Chaos hört man das Schreien eines Babys.

Und ich war zum erste Mal in meiner Jahrmilliardenlangen Existenz völlig verblüfft.

***

Als die Polizei in Begleitung eines Krankenwagens 27 Minuten später eintraf, stand ich immer noch dort und starrte auf das kleine Wesen, welches im zerfetzten Leib der Mutter lag.

In diesen 27 Minuten waren weder Babys lebendig Geboren noch Menschen gestorben. Ich habe es in meiner Fassungslosigkeit einfach verpennt.

Die Schreie des Babys waren zu einem Jammern übergegangen als die Polizei den Bereich absperrte und den Leuten befahl zurückzutreten und weiterzufahren.

Gründlich inspizierten sie den Unfallort und waren entsetzt als sie das Wimmern des Babys aus dem Leichnam der Frau vernahmen.

Die Sanitäter aus dem Krankenwagen untersuchten die völlig, von einem 10 Tonnen schweren Sattelschlepper, zerfleischte Frau und entnahmen ihrem toten Körper, zu ihrer grenzenlosen Überraschung ein völlig unverletztes und soweit gesundes Baby, welches sofort in das örtliche Krankenhaus gefahren wurde. Um den toten, über der Strasse verteilten, Körper der Frau, kümmerten sich derweil eine Spezialreinigungstruppe.

Das Baby entpuppte sich als kerngesundes 2700 Gramm schweres Mädchen, von dem ununterbrochen in den Nachrichten gesprochen wurde.
Sie wurde als "Wunder-Baby" betitelt und darum vorläufig von der Oberhebamme, welche sie unter ihre Fittiche nahm "Alice" genannt. Da ihre Mutter selbst nach mehreren Monaten nicht identifiziert werden konnte, wurde entschieden, dass man Alice, auch um sie vor der Öffentlichkeit zu schützen, in ein Mädchenheim in die Bergen schicken sollte.

Und dort lebt sie nun seit eineinhalb Jahrzehnten. Völlig abgeschottet mitten in den Schweizer Alpen, zwischen Kuhfladen und Edelweissblüten und merkt jeden Tag, dass etwas an ihr anders ist.

Nur weiss sie nicht was.

Es scheint, dass ich der einzige bin, der es weiss.

SempiternalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt