Kapitel 1

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"Juliette! Frühstück ist fertig!", rief Roxanne ihrer jüngeren Schwester zu.
Auf dem kleinen Tisch in der schmutzigen Küche stand ein mit Mühe zubereitetes Frühstück. Es gab Eier, Speck, Pfannekuchen, selbstgebackene Brötchen, Käse, Marmelade, Milch und eine Tasse heisse Schokolade. Roxanne hatte nur wegen der Schokolade den drei Stunden langen Weg bis zum nächsten Dorf zurückgelegt und hatte ein wenig Schokolade aus einem kleinen Laden am Dorfrand gestohlen.
Doch das Beste, was auch den ganzen Aufwand erklärte, war der Schokoladenkuchen, der mitten auf dem Tisch prangte. Darauf brannten zwei Kerzen und in weisser, krakeliger Schrift stand geschrieben: "ALES GUTE ZUM 14. GEBURTZTAG, JULIETTE!" Daneben lag ein kleines in braunes Papier verpacktes Geschenk.

Als Juliette in die Küche kam und den gedeckten Tisch erblickte, stürzte sie sich freudestrahlend auf Roxanne und umarmte sie so fest, dass diese überrascht nach Luft schnappte.
"Danke!", rief Juliette glücklich.
"B-bitte, hab ich doch gern gemacht", stotterte Roxanne mit strahlendem Gesicht.

Vier Jahre voller Hass und Abneigung. Vier schreckliche Jahre. Juliette hatte ihr die Schuld am Tod ihrer Eltern gegeben, weil sie als einzige die Explosion des Hauses überlebt hatte, doch Roxanne konnte sich selbst weder erklären, woher die plötzliche Explosion gekommen war, noch wusste sie warum sie als einzige überlebt hatte.

Juliette löste sich vorsichtig von ihrer Schwester und betrachtete noch einmal in Ruhe den vollen Tisch, wobei ihr Blick an dem Schokoladenkuchen haften blieb.
"Das hast du alles für mich gemacht?", fragte sie etwas ausser Atem. "Wieso? Du magst mich doch gar nicht!"
"Natürlich mag ich dich!", erwiderte Roxanne bleich. "Du magst mich nicht und willst mir nicht glauben, dass ich nicht Schuld bin am Tod unserer Eltern. Deswegen denkst du, ich würde dich nicht mögen, aber das stimmt nicht."
Sie trat ein paar Schritte an ihre jüngere Schwester heran und strich ihr liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Juliette", begann sie heiser. "Ich möchte, dass du eines weisst. Ich liebe dich, auch wenn du das nicht denkst. Ich sage dir noch einmal: Ich weiss nicht wieso ich als einzige überlebt habe, aber ich weiss sehr genau, dass ich keine Schuld an der Zerstörung trage. Vielleicht ist dir aufgefallen, dass ich seit dem keinen Anfall, wie du es nennst, hatte. Also besteht eindeutig die Möglichkeit, dass ich auch zu dieser Zeit keinen hatte."
Juliette schaute sie misstrauisch an, doch dann sagte sie nach einigem Überlegen: "Na gut, mal angenommen ich glaube die jetzt. Wollen wir herausfinden was es damit auf sich hat?"
"Na klar", willigte Roxanne ein. "Aber zuerst frühstücken wir und du packst dein Geschenk aus!"
***
"Danke!"
Juliette hatte das Geschenk ausgepackt. Es war eine lederne Halskette mit einem blutroten Rubin in der Form eines Herzens. Sie hängte sich die Kette sofort um den Hals und Roxanne konnte in ihrem Gesicht sehen wie sehr sie sich freute, wie in einem Bilderbuch.
"Kein Problem", winkte sie ab.
***
Juliette trat nach draussen. Sonnenstrahlen umfingen sie, wie ein goldener Schleier.
Eine Frau kam aus dem dunklen Wald auf sie zu. Sie war hoch gewachsen und hatte langes schwarzes Haar, das sich wie flüssieges Pech über ihre Schultern ergoss.

"Camille."
Juliette neigte ehrfürchte den Kopf vor ihr als sie näher trat.
"Juliette, meine Liebe, komm mit mir", lockte Camille sie mit einer Stimme die sanft war, wie weiche Federn, doch gleichzeitig jeden auf der Stelle vor Kälte und Angst zittern liess.
Juliette fühlte sich neben ihr, wie ein hässlicher Käfer neben einem Schwan. Sie wollte mit ihr gehen, doch etwas in ihr hielt sie zurück. Roxanne. Was würde sie tun, wenn sie merkte, dass Juliette verschwunden war? Würde sie sie suchen? Oder wäre sie einfach nur froh, dass sie sie endlich los war?
"Was ist? Warum kommst du nicht?"
Camilles Stimme liess sie den Gedanken an ihre Schwester vergessen und stattdessen den dringenden Wunsch verspüren mit ihr zu gehen.
Dunkelheit umfing sie als sie mit Camille zwischen den hohen Bäumen verschwand.
***
"Juliette?"
Roxanne war verzweifelt. Sie hatte schon die ganze Hütte und alles um die Lichtung herum abgesucht, doch ihre Schwester blieb verschwunden.
Sie spürte wie eine heisse Träne ihre Wange hinunterlief und wischte sie verärgert mit ihrer schmutzigen Schürze fort.
In letzter Zeit weinte sie oft.
Warum nur? Sie hatte doch früher nie geweint. In letzter Zeit hatte sie oft solche Gefühlsausbrüche, doch sie mochte sie eigentlich, denn dadurch fühlte sie sich menschlich, auch wenn sie manchmal unpraktisch waren. Früher hatte sie sich immer wie ein Fantasiewesen gefühlt. Eines, dass keine Gefühle kannte. Nur den Hass. Oh ja den hatte sie oft gespürt, doch sie hatte gelernt zu lieben. Sie wusste nun endlich was Liebe bedeutete.
Deswegen, wegen der Liebe zu Juliette, packte sie die wichtigsten Dinge in einen kleinen Beutel und machte sich auf die Suche nach ihrer geliebten Schwester.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 06, 2015 ⏰

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