Juliette lief durch den Wald, der immer dichter und finsterer wurde. Wahrscheinlich hätte sie sich fürchten sollen, denn es könnten ja wer weiss was für Kreaturen aus den dichten Bäumen hervorspringen. Doch sie hatte keine Angst, nicht mehr.
Schon als kleines Kind, als sie gerade laufen gelernt hatte, war sie mit ihrem Vater oder ihrer Schwester hier auf Jagd gewesen oder hatte Pilze und Kräuter gesammelt. Später war sie auch allein im Wald gewesen und jetzt war es meist ihre Aufgabe die benötigten Kräuter und Pilze zu besorgen, weil sie sich damit am besten auskannte.
Nun hatte ihr Vater Juliette geschickt, um Kräuter für einen Tee zu besorgen, der ihre kranke Mutter wieder gesund machen sollte.
Juliette suchte nach einem seltenen unauffälligen Kraut, welches nur schwer zu finden war, weil es aussah wie ein gewöhnlicher Grashalm und deshalb schwer zu sehen war. Erkennen konnte man das Terant-Kraut an einem ganz kleinen schwarzen Punkt auf der abgerundeten Spitze, der so leicht zu übersehen war, dass selbst Juliette, die darauf trainiert war so etwas zu entdecken, das Kraut manchmal nicht bemerkte.
Sie war schon zwei Stunden aufmerksam durch den Wald gelaufen, als sie endlich eine Lichtung erreichte, wo sie das Kraut entdeckte. Es wuchs hier neben einem rötlichen Stein, der gerade einmal so gross war wie ein Spielwürfel und mit dem kleinen Halm des Krautes allein auf dem sonst kahlen Boden der Lichtung lag. Erleichtert zog Juliette das grasartige Gewächs samt Wurzel aus dem Boden.
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte so schnell sie konnte zurück nach Hause. Diesmal brauchte Juliette nur eine halbe Stunde, da sie nicht Ausschau nach dem Terant-Kraut halten musste.
Etwas ausser Atem erreichte Juliette die Lichtung auf der das Haus ihrer Familie stand.
Nein.
Es hatte dort gestanden, dachte sie.
Wie versteinert stand Juliette vor den Trümmern des Hauses in dem sie ihre Kindheit bisher verbracht hatte. Hier hatte sie die glücklichsten und die schrecklichsten Momente gemeinsam mit ihrer Familie überstanden.
Doch diesen, den schrecklichsten aller Momente, musste sie allein durchstehen.
Juliette starrte auf die Überreste des Hauses und spürte rein gar nichts. Nur eine gähnende eiskalte Leere, die sich langsam in ihr ausbreitete. Es fühlte sich an als hätte jemand den Waldboden unter ihren Füssen weggezogen und sie würde ins Nichts fallen. Ins eiskalte Nichts. Langsam fiel sie auf die Knie ohne den Blick von ihrem zerstörten Elternhaus abzuwenden.
Juliette wusste nicht, wie lange sie noch dort gekniet hätte, wenn nicht plötzlich eine vertraute Stimme sie in die Wirklichkeit zurückgeholt hätte.
"Juliette!", rief ihre Schwester und rannte auf sie zu. Roxanne kniete sich neben Juliette und wischte mit ihrer dreckigen Schürze liebevoll über ihr Gesicht. Die Tränen hatten unbemerkt begonnen in Sturzbächen über Juliettes Wangen zu fliessen, aber sie konnte sie nicht aufhalten. Sie wollte es auch gar nicht, denn es schien ihr angebracht in der Situation.
Roxanne weinte natürlich nicht. Sie hatte noch nie geweint. Nicht einmal als sie sich als Achtjährige den Arm gebrochen hatte.
Langsam kehrten Wärme und Lebensgeist in Juliettes Körper zurück und sie konnte wieder klar denken. Sie und Roxanne hatten inzwischen ein Verhältnis wie bei richtigen Schwestern zwischen ihnen entwickelt.
Früher hatte Roxanne nie viel gesprochen und niemandem erzählt was sie vorhatte bevor sie es tat. Es schien als hätte sie überhaupt keine Gefühle gehabt. Sie fand es unglaublich lustig kleine Käfer oder andere Tierchen zwischen zwei Fingern zu zerdrücken oder mit dem Fuss zu zerquetschen. Juliette dagegen konnte keinem Tier etwas zu Leide tun.
Inzwischen war Roxanne liebevoller geworden, doch in manchen Situationen kam die frühere gefühlslose Roxanne wieder zum Vorschein. Es wurde zwar immer seltener, aber dennoch gab es diese Ausbrüche. Zur Zeit hatte sie meistens einen im Monat. Der Juli ging schon dem Ende zu und Roxanne hatte noch keinen der Ausbrüche gehabt...
"GEH WEG VON HIER UND KOMM NIEMALS WIEDER!", schrie Juliette und sprang mit gequältem Gesichtsausdruck auf. Roxanne sass wie versteinert da. Juliette konnte ihre Erschrockenheit und Verzwiflung sehen, die ihr ins Gesicht geschrieben stand. Dennoch bereute sie ihre Worte nicht. Dieses Mädchen, ihre Schwester, hatte zwar einen ungewollten Wutausbruch gehabt, aber trotzdem hatte sie das Haus zerstört, wobei ihre Eltern gestorben waren und sie selbst hatte überlebt!
"Juliette...- ", begann Roxanne leise, doch sie wurde von ihrer Schwester unterbrochen: "NEIN! GEH WEG! LASS MICH EINFACH IN RUHE! ICH WEISS WAS DU GETAN HAST UND AUCH, DASS DU TIEF IN DIR DRIN IMMER NOCH DIE ALTE BIST!"
"Juliette, bitte, hör mir zu!" Roxanne sprach so leise, dass Juliette sie kaum verstehen konnte.
"NEIN! ICH WERDE DIR NICHT ZUHÖREN!", schrie Juliette.
"Juliette...", war das einzige was Roxanne noch hervorbrachte, bevor sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf dem Boden zusammenbrach und hemmungslos anfing zu schluchzen.
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Verloren
FantasíaRoxanne sucht verzweifelt nach ihrer verschwundenen Schwester. Das ist aber nicht so leicht, denn sie muss dazu in eine unbekannte Welt eintauchen. Alleine kann sie es nicht schaffen, deshalb tut sie sich mit dem gutaussehenden Sebastian, dem sie au...