Kapitel 1

4.2K 154 45
                                    

Der laut piepende Ton meines Weckers riss mich aus meinem Schlaf. Viele Leute verabscheuten ihren Wecker, da dieser sie immer wieder aus ihren schönsten Träumen reißt. Doch für mich war dieser laute, schrille Ton jeden Morgen die reinste Erlösung. Er erlöste mich von meinen Alpträumen, die mich jede Nacht aufsuchten. Sie waren immer unterschiedlich. Mal wachte schreiend in der Nacht auf, mal mit verheulten Augen und manchmal konnte ich den Träumen gar nicht entkommen bis mein Wecker mich in den frühen Morgenstunden begnadigte. So auch heute Morgen. Die schrecklichen Erinnerungen an meinen Traum brannten sich tief in meine Kopfhaut ein und ich konnte sie nur mit Mühe verdrängen.

Es reichte wenn ich in der Nacht von diesem Horror aufgesucht wurde, da konnte ich ihn nicht auch noch tagsüber gebrauchen. Vor allem nicht heute an meinem ersten Schultag auf einer neuen Schule, in einer komplett neuen Stadt. Es ist jetzt anderthalb Monate her seitdem wir hierher gezogen sind und in dieser Zeit habe ich das Haus so gut wie nie verlassen. Entweder war ich in meinem Zimmer und habe mich mit Büchern und Filmen abgelenkt oder aber ich habe etwas mit meinem Bruder unternommen. Meistens haben wir einfach nur geredet. Er versteht mich, wie kein anderer mich verstehen kann und dafür hab ich ihn unglaublich lieb.

Mit einem tiefen Seufzer schwang ich die Beine über meine Bettkante und stand mühselig auf. Ich tappte zu meinem Kleiderschrank hinüber und warf unfreiwillig einen Blick in den großen, goldenen mit Schnörkel verzierten Spiegel, der an einer der Schranktüren hing.

Das Mädchen, dass mir entgegenblickte sah auf den ersten Moment hin ganz normal und glücklich aus. Es hatte wunderschöne lange, braune Haare, makellose Haut, eine kleine Stupsnase, grüne Augen und volle, rote Lippen.

Doch auf den zweiten Blick, konnte man die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit erkennen, die dieses Mädchen ausstrahlte. In ihren Augen konnte man nichts als Leere und Trauer ausmachen. Augenringe zierten ihr Gesicht. Ein Zeichen von den unglaublich vielen schlaflosen Nächten, die sie hinter sich gebracht hatte. Ihre Mundwinkel hingen leicht nach unten und ihr Gesicht war merkwürdig eingefallen.

Das Mädchen trug ein weißes Top und eine kurze, blaugrau karierte Schlafhose. Das Top schmiegte sich an ihren Oberkörper und offenbarte ihren ausgemergelten Körper. Die Rippen, sowie die Beckenknochen waren klar zu erkennen. Ihre Schultern hingen schlaf an ihr herunter und auch hier konnte man ihre Knochen ausmachen. Zwischen ihren Beinen prangte eine große Lücke. Ansonsten waren auch diese viel zu dünn und knochig. Genauso wie ihre Arme. Doch das war bei weitem nicht das auffälligste an ihren Armen. Auf jedem Unterarm prangten unzählige Narben. Manche waren schon verblasst, andere schimmerten nur noch leicht rötlich vor sich hin, doch es gab auch welche die immer noch in einem tiefen blutrot leuchteten. Das Mädchen hatte diese Narben schon oft gezählt. Es waren rund 133 Stück auf ihrem linken Arm und 105 Stück auf ihrem rechten Arm.

Vorsichtig legte ich meine Handfläche auf die kalte, glatte Spiegeloberfläche. Das verloren wirkende Mädchen im Spiegel tat es mir nach.

„Wie hat es nur so weit kommen können?", flüsterte ich mit tränenerstickender Stimme. Doch ich kannte die Antwort bereits. In jener Nacht hat er mir alles genommen.

Hastig wandte ich denn Blick ab und wischte mein Tränen fort. Dann öffnete ich die Schranktür und zog eine schwarze Shorts und graues langärmliges Shirt heraus. Ich wusste, dass ich heute den ganzen Tag über schwitzen würde, schließlich war Hochsommer, doch niemand sollte meine Narben sehen. Ich wollte einen normalen ersten Eindruck hinterlassen und nicht gleich als gestörte Psychopatin abgestempelt werden.

Langsam ging ich ins Bad. Dort fing ich an mich auszuziehen. Als ich meine kurze Hose abstreifte, berührten meine Fingerspitzen unwillkürlich, die kleine schon verblasste Narbe an der Innenseite meines rechten Oberschenkels. Er hatte seine Fingernägel damals so tief in meine Haut reingebohrt, dass eine Narbe übrig geblieben war. Eine dauerhafte Erinnerung an die schrecklichste Nacht meines Lebens, doch ich wollte jetzt nicht daran denken, also zog ich mir hastig meine Shorts über. Dann mein Shirt.

GebrochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt