Mein Tag

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Hektisch stürmte ich durch die überfüllten Gänge der Akademie. Meine Tasche schlug mir in einem dauernden Rhythmus gegen die Rippen, aber es war mir egal. Das einzige, woran ich wirklich dachte, war das Vortanzen. Was, wenn ich es nicht schaffen würde? Was, wenn sie mich nehmen würden? Plötzlich knallte ich gegen etwas. Besser gesagt ... gegen irgendjemanden. Ich taumelte zurück und rieb mir die Schulter. ,,Kannst du nicht... Oh. Sorry.", murmelte die Person vor mir. Ich hob den Kopf. Vor mir stand ein vielleicht 17-jähriger Junge. Er war relativ groß, muskulös und ... verdammt hübsch. Ich blickte ihm direkt in die Augen. Er hatte schöne Augen. Sie waren tiefblau. ,,Äh... alles okay?", fragte er mich. Nur schwer konnte ich meinen Blick von seinen Augen los reißen. ,,Jaja, alles okay. Aber ich muss jetzt los.", nuschelte ich und drückte mich an ihm vorbei.

Die Umkleide war voller Mädchen. Alle redeten wild durch einander und das Geschrei bescherte mir Kopfschmerzen. Noch dazu war ich so nervös, dass ich kaum stehen konnte. Ich band so schnell wie möglich meine Schuhe zu und zupfte das Trikot zurecht. ,,Hey. Du bist neu hier, oder?" Ich fuhr herum. Ein blondes Mädchen sah mich erwartungsvoll an. Ich nickte. Mittlerweile hatte mir die Aufregung die Sprache verschlagen. Während ich begann, meine Füße zu dehnen, setzte sich das Mädchen neben mich auf die Bank. ,,Ich bin Ellen. Und du?" Ich hob genervt den Kopf. ,,Nathalie. Kannst mich Nati nennen, aber ich weiß noch nicht, ob ich hierbleib'.", murrte ich und dehnte weiter. ,,Oh, du hast dein Vortanzen? Wusste ich nicht, tut mir leid. Vielleicht halte ich mal lieber die Klappe." Ich lächelte sie dankbar an. Doch nach circa einer Minute atmete sie hörbar aus und seufzte. ,,Nein, sorry. Ich kann sowas nicht." Ich musste über diese Aussage einfach lachen. ,,Ist schon okay. Vielleicht kannst du mir zeigen, wo ich hin muss?" Sie nickte eifrig.
Sie ging vor mir her und führte mich durch das Labyrinth aus Gängen und Räumen. Auf einmal blieb sie stehen. Gerade noch konnte ich mich abfangen, sodass ich ihr nicht gegen den Rücken prallte. ,,Das sind wir.", sagt sie schlicht. Ich warf einen Blick durch das Fenster. Ein junges Mädchen tanzte. Sie sah wunderschön aus, auch die "Jury" nickte ihr immer wieder aufmunternd und begeistert zu. Wie eine Welle schwappte die Panik und Angst über mich. Meine Hände begannen zu schwitzen, mein Atem wurde immer schneller. ,,Du schaffst das schon!", lächelte Ellen und verschwand. Ich nickte benommen und zwang mich, zur Ruhe zu kommen. Mir wurde unsagbar schlecht. Ich muss mich zusammen reißen! Ich kann denen ja nicht vor die Füße reihern. Die Musik, die ich nur schwach von hier draußen gehört hatte, verstummte. Mein Blick wanderte wieder zum Fenster. Die zwei Frauen hatten sich erhoben, der ältere Mann machte sich an der Stereo-Anlage zu schaffen. Während das Mädchen immer wieder erschöpft nickte und die eine Frau immer weiter redete, begann ich, an mir selbst zu zweifeln. Was, wenn sie viel mehr von mir erwarten? Was, wenn ich Fehler machen? Was, wenn... Weiter kam ich nicht, denn die Tür ging auf und das Mädchen kam heraus. Sie grinste bis über beide Ohren. ,,Viel Glück!", murmelte sie mir zu, dann drehte sie sich um. Ich verdrehte ironisch die Augen und betrat den Saal. ,,Du bist Nathalie Delorme?", fragte die schlanke, große Frau. Ich nickte. Ein riesiger Kloß hatte sich in meinem Hals ausgebreitet. ,,Madam Lenin hat ja schon viel von dir geschwärmt. Du hattest in den letzten drei Jahren die Hauptrollen schlecht hin, nicht war?" Wieder nickte ich, diesmal schoss mir allerdings die Röte in die Wangen. Die Drei setzten sich und ich stellte mich auf.
Als die ersten Takte meiner Musik erklangen, war plötzlich alle Anspannung vergessen. Ich hob die Arme, bewegte mich federleicht zur Musik. So, wie Madam Lenin es mir beigebracht hatte. Dieser Frau hatte ich so viel zu verdanken. Sie hatte mir meinen Traum erfüllt: Tanzen zu lernen.
Und nun schaffte ich es vielleicht auf die Akademie.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf schwirrten, tanzte ich durch meine Choreographie. Tausend mal hatte ich sie geübt, nahezu perfektioniert. Ich bemerkte keine Fehler, allerdings war es heute auch nicht perfekt. Gut beschrieb es. Als die letzten Töne verklangen, endete ich in der Abschluss-Pose. Einige Sekunden verharrte ich so, dann löste ich mich wieder und konzentrierte mich wieder auf die "Jury". Die eine Frau sah mich einfach nur sprachlos an, der Mann klatschte langsam und die andere Frau richtete sich staunend auf. Ich lächelte nervös. Sind sie begeistert? Oder negativ überrascht? ,,Das war einfach ...unglaublich. Meine Güte, hast du das alles bei Madam Lenin gelernt?" Ich nickte unsicher. ,,Das war gigantisch!", fand nun auch der Mann seine Stimme wieder. ,,Wenn du möchtest, kannst du hier her kommen. Wir fänden das gut!", lächelte die Frau und schrieb etwas auf. Ich konnte es nicht fassen. Hatte sie das wirklich gesagt? Oder hab ich das geträumt? OMG, ich wurde genommen!!! Ich quietschte hysterisch auf und hüpfte begeistert auf und ab. Die drei lachten und gratulierten mir, aber das bekam ich eigentlich gar nicht mehr mit. Mein Kopf war nur mit einer einzigen Aussage gefüllt: ich hatte einen Platz an der Berliner-Ballett-Akademie. Endlich.

Mein Traum. Mein Leben. Mein Tod.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt