Neues Semester

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,,Also, das hier ist dein Zimmer. Gefällt es dir?" Meine Tante Annette schaute mich fragend an. Ich musterte den großen Raum. Er war gewöhnlich ausgestattet, trotzdem gefiel es mir besonders gut. Das war gar nicht schlecht, schließlich würde ich jetzt eine ziemlich lange Zeit bei meiner Tante wohnen. Bis meine Eltern nach Berlin ziehen würden, wenn sie das überhaupt tun würden. Meine Eltern waren sichtlich nicht davon begeistert gewesen, als ich ihnen erzählt hatte, dass ich nun nach Berlin müsste. Aber ich konnte schließlich auch nicht jeden Tag von Hessen nach Berlin fahren.
Annette schob den großen Koffer in das Zimmer und lächelte mir dann zu. Mit einem ,,Du brauchst wahrscheinlich etwas Zeit" verschwand sie in die Küche. Seufzend begab ich mich an meinen Koffer.
Mein Handy vibrierte. Ich nahm das Iphone in die Hand und nahm ab. ,,Nathalie? Natiii!!!", kreischte meine beste Freundin durch die Leitung. Erschrocken warf ich das Handy weg. Doch dann musste ich lautstark lachen und griff wieder danach. ,,Hey Franzi, alles klar? Was geht da drüben ab?" ,,Man Nathalie, ich vermiss dich schon. Wie soll ich das jetzt ewig aushalten?", jammerte sie, worüber ich nur noch mehr lachen musste. ,,Wäre ja schlimm, wenn du mich nicht vermissen würdest! Es ist okay hier. Viel hab ich ja noch nicht gesehen, eigentlich nur die Wohnung von meiner Tante und die Akademie. Aber die Wohnung ist hammer!", schwärmte ich. Sie seufzte.
Wir telefonierten lang. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Auf jeden Fall rief meine Tante mich irgendwann zum Essen. Ich verabschiedete mich von Franziska und ging in die Küche. Sie war klein und extrem gemütlich, wie eigentlich der ganze Rest der Wohnung. ,,Na? Schon Heimweh?", fragte Annette grinsend. Nein, Heimweh hatte ich nicht. Würde ich auch nie haben. Vielleicht, aber dann nur wegen meinen Freunden. Meine Eltern mochte ich nicht wirklich. Mein Vater arbeitete so gut wie immer und meine Mutter hatte immer viel zu viel mit den Gästen zu tun. Wir besaßen nämlich ein Ferienhaus in Hessen. An einem See, ein beliebtes Urlaubsziel. Das beste war aber eigentlich der Stall, der direkt neben dem Ferienhaus war. Vielleicht würde ich dorthin Heimweh bekommen. Ich schüttelte also entschieden den Kopf. ,,Wann fängst du an? Und wie kommst du dann dorthin? Du weißt, dass ich arbeiten muss." ,,Ich soll Montag anfangen. Und ich werde mit der Straßenbahn fahren, ist ja nicht so weit weg.", murmelte ich. ,,Hey, freust du dich denn nicht?", fragte sie besorgt. Ich hob den Kopf. ,,Was? Nein! Ich freue mich abartig, aber ... ich glaube, ich bin ... einfach nervös." 'Ich glaube, ich bin nicht für so etwas geschaffen.', wollte ich sagen. Aber dann hätte ich tausende Unterrichtstunden, Unmengen an Geld, Materialien wie Trikots und neue Schuhe, sowie sämtlichen Aufwand für meine Tante verschwendet. Denn wie ich meine Tante kannte, hätte sie mich wieder nach Hause geschickt. Sie gab sich mit meiner Antwort zufrieden und ließ mich einigermaßen in Ruhe.
Am Abend lag ich schlaflos im Bett. Morgen war Sonntag, ich hatte also noch einen freien Tag. Trotzdem spukten mir wirre Gedanken durch den Kopf. Wenn ich das alles gar nicht kann? Gar nicht will? Wenn sie mich doch nicht gut genug finden? Ich stöhnte. In solchen Momenten hasste ich mein Gehirn. Es wird schon alles gut gehen! Und an diese Aussage geklammert, schlief ich letztendlich ein.

Ein schrilles, krasses Geräusch ließ mich am Montagmorgen aus dem Bett fallen. Der Wecker hatte mich komplett im Tiefschlaf erwischt. Ich seufzte und stand mit dem blick auf die Uhr auf. Es war 5:47 Uhr. An das frühe Aufstehen würde ich mich definitiv dringend gewöhnen müssen.
Annette schlief noch, als ich duschen ging. Als ich danach die Küche betrat, saß sie dort allerdings schon und las gemütlich Zeitung. ,,Morgen. Willst du was essen?", fragte sie, ohne den Kopf zu heben. ,,Nein." Ich glaube, ich hätte auch nichts runter bekommen. Mir war völlig schlecht, mein Gehirn konnte einfach nicht leise sein und mein Kopf dröhnte. Selbst nach einer Tasse starken Kaffee fühlte ich mich noch immer beschissen. Annette lachte nur darüber, ich stöhnte. Das konnte ja noch was werden.

In der Akademie drehte ich dann vollkommen durch. Vielleicht lag das an meinem Koffein-Schock. Zwei starke Kaffee und eine Dose Ice-Tea. Vielleicht an meiner "Einsamkeit" , denn ich hatte Ellen bis jetzt nicht gesehen. Während hunderte Mädchen jedes Alters um mich herum rannten, suchte ich jeden Gesicht nach ihr ab. Vielleicht rechnet sie gar nicht mehr mit mir? Wir waren schließlich keine Freunde. Ich hatte nie viele Freunde. Aber das lag an mir, ich war nicht wirklich freundlich zu Fremden. Franziska kannte ich seit dem Kindergarten, damals war ich wahrscheinlich noch klein und lieb. Aber seit ich mich in der 5. Klasse eine bestimmten Person komplett anvertraut und dann rücksichtslos hintergangen wurde, war ich eben vorsichtiger.
Auf einmal erblickte ich Ellen. Sie betrat mit einem anderen blonden Mädchen die Umkleide. Die beiden lachten und gestikulierten wild, während sie sich einen Spind suchten. Ellen drehte sich um. Als sie mich erblickte, begann sie zu grinsen. Ich lächelte unsicher zurück und zupfte an meinem Ohrläppchen. Sie kam auf mich zu. ,,Hey Nathalie! Ich wusste du schaffst es!" Sie zog mich in eine Umarmung. ,,Das ist Romika. Sie ist in meiner Gruppe. Romika, das ist Nathalie." Ellen deutete auf mich. ,,Hi. Na, wie war dein Vortanzen?", fragte Romika lächelnd. Sie kam mir sehr sympathisch vor, allerdings nicht auf diese Ich-bin-zu-allen-lieb-Art. ,,Naja, wohl ganz gut.", meinte ich kälter als beabsichtigt. Und es tat mir leid, als ich Romika's Gesichtsausdruck sah. ,,Sorry.", murmelte ich.
Die Klingel erlöste uns aus dem unangenehmen Schweigen. ,,Wo muss ich hin?" Ellen zog mich sanft mit sich. Schließlich blieben wir vor einem typischen Ballett-Saal stehen. Vor dem Raum waren mehrere Bänke aufgestellt, auf denen mittlerweile mehrere Mädchen saßen. Die weiße Flügeltür war noch geschlossen, durch das Fenster erkannte ich bereits eine Frau im Saal. Bevor ich sie genauer mustern konnte, stupste Ellen mich an. ,,Das ist Frau Moskwa. Pass auf, sie ist streng. Sehr streng. Aber wenn du dich unauffällig verhälst, dann geht's." Ich wurde nervös. Erneut.
Die Tür ging auf und die ungefähr 20 Mädchen strömten in den Saal. Ich wurde herum gedrückt, letztendlich fand ich mich dann aber doch im Saal wieder. ,,Guten Morgen, Mädchen. Wie ich sehe haben wir einen Neuzugang." Ihr Blick durchbohrte mich, ich wurde rot. ,,Äh... Ich bin Nathalie Delorme...", stotterte ich. ,,Wie lange tanzt du schon?", fragt Frau Moskwa streng. ,,Äh...12 Jahre." Ehrfürchtiges Flüstern um mich herum. Selbst Ellen starrt mich an. ,,Zwölf Jahre?", formt sie lautlos mit den Lippen. Ich nicke unsicher. ,,Das ist gut. Ich nehme mal an, du kannst und etwas vortanzen?" Ich reiße die Augen auf. Nicht, das ich das nicht könnte, aber ich hatte damit nicht gerechnet. ,,Also?" ,,Ja...jaja.. Klar.", murmelte ich und quetschte mich nach vorne. Frau Moskwa trat einen Schritt auf mich zu. Ich zwang mich, ruhig zu atmen. ,,Das war zwar eigentlich nur ein Test, aber wenn du willst!", flüsterte sie. Ich stutzte. Ein Test? Ein verdammter Test? Was dachten die sich eigentlich?
Aber auf einmal erkannte ich meine Chance. Ich könnte mich beweisen. Vielleicht könnte ich mich bei ihr einschätzen? Also nickte ich. Sie hob überrascht die Augenbraue, schaltete dann aber die Anlage ein. Es ertönte eine einfache Melodie zu einem 4/4 Takt. Ich hatte zwar spontan nichts vorbereitet, aber das wurde ja auch nicht erwartet.
Leichtfüßig sprang und drehte ich mich durch den Raum, tänzelte hin und her. Ich vergas alles um mich herum. Ich lebte in meiner eigenen Welt, ohne die staunende Menge und ohne Frau Moskwa. Ich musste nicht auf jeden Schritt achten, nicht jede Armbewegung abstimmen. Ich tanzte frei, und es fühlte sich gut an.

Mein Traum. Mein Leben. Mein Tod.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt