1. Ein bedeutendes Ereignis: die Weltfestspiele 1973
Seit drei Tagen ist Berlin im Ausnahmezustand. Die Stadt strotzt nur so vor Lebensfreude und Menschen und das stimmt mich misstrauisch. Ich habe die Stadt noch nie zuvor so - man könnte fast sagen 'befreit' - erlebt. Ich hingegen fühle mich keines Wegs 'befreit'. Die abgestandene und stickige Luft in meinem Büro engt mich ein. Ich würde nur zu gerne das Fenster aufmachen, doch der Architekt dieses wundervollen Gebäudes hat sich gedacht: Fenster, die man öffnen kann? Nicht mit mir! Die hat doch jeder. Dieses Gebäude soll etwas Besonderes werden!
Dank diesem Architekten bin ich kurz vorm Hyperventilieren. Zudem beginnen meine Finger vom Abtippen eines Briefes zu schmerzen. Das kommt mir jetzt sehr gelegen- und zwar gar nicht. Eine kleine Pause könnte ich mir schon gönnen, oder? Schließlich sind die meisten schon längst zu Hause. Es würde keiner bemerken. Demnach ergreife ich die Möglichkeit, lehne mich in meinem unbequemen schwarzen Bürostuhl zurück und schaue aus meinen meiner Ansicht nach 'defekten' Bürofenstern. Mein Blick fällt auf den überfüllten Alexanderplatz. Dort herrscht reges Treiben, weshalb auch kein einziger Fleck grauer Asphalt zu sehen ist. Überall stehen Menschen in Gruppen zusammen, die sich entweder angeregt unterhalten, sich die verschiedensten Stände ansehen oder zusammen Musik machen. Alles im Allem scheinen alle ausgelassen, friedlich und zufrieden zu sein.
Ungläubig schüttle ich den Kopf und wende mich vom Fenster ab. Das kann einfach nicht die Wirklichkeit sein, die ich gesehen habe. Wo ist das graue sozialistische Berlin abgeblieben? In dem Disziplin und Ordnung höchste Priorität haben? In dem man immer seine Worte überdenken muss, bevor man sie laut ausspricht?
Diese Fragen führen mich zu der wichtigsten Frage: Was will die SED mit den Weltfestspielen bezwecken? Sollen wir plötzlich doch ein modernerer Staat werden? Warum lässt sie jetzt Jugendliche und Studenten über politische Themen diskutieren, wenn man ein paar Tage zuvor die Begriffe „DDR" und „BRD" nicht in einem Satz verwenden durfte? Hat sich wirklich etwas geändert oder sind die Weltfestspiele nur Fassade? Schließlich sind mehrere tausend Studenten aus den verschiedensten Ländern angereist, die sich nun ein Bild von der DDR machen.
Plötzlich ertönt ein lautes Klopfen. Ich nehme schnell wieder eine aufrechte Sitzhaltung ein und versuche meine Gedanken, die die Weltfestspiele betreffen, weitestgehend zu verdrängen, bevor ich mit einem „Herein" der anklopfenden Person die Erlaubnis erteile „mein" Büro zu betreten. Eigentlich teile ich das Büro mit drei weiteren Damen, aber die sind schon vor zwei Stunden in den Feierabend gegangen.
Im Türrahmen erscheint mein Vorgesetzter, er ist um die 50 Jahre alt und hat bis vor drei Jahren das mittelständige Unternehmen geleitet. Seit 1970 ist es ein volkseigener Betrieb und er ist somit nur noch ein Werkleiter, der sich an seinen Produktionsplan zu halten hat.
Als er mich sieht, ziert ein verwirrter und überraschter Ausdruck sein Gesicht, wobei sich seine linke Augenbraue fragend hebt.
„Was machen sie noch hier, Frau Konzack?" Was man halt so an seinem Schreibtisch macht - Schach spielen jedenfalls nicht. Ich hatte diese Frage nicht erwartet, da es meist niemanden kümmert, wie lange man im Büro arbeitet. Hauptsache man erledigt alle seine Aufgaben und Pflichten gewissenhaft- was ich natürlich immer mache.
„Ich wollte noch den Brief abtippen, damit Sie ihn noch heute abschicken können", erkläre ich ihm meine Anwesenheit im Büro und beobachte die Reaktion meines Arbeitgebers. Er runzelt kurz die Stirn, anscheinend erinnert er sich nicht mehr an den Auftrag, den er mir vor etwa einer Stunde erteilt hatte, bis sich seine Mundwinkel zu einem wissenden Lächeln verziehen.
„Sie sind sehr arbeitstüchtig, das sieht man gerne, aber der Brief hat nun wirklich keine Eile. Gehen Sie endlich in ihren Feierabend. Eine junge Frau wie sie sollte Freitagabend nicht so lange im Büro verweilen."
DU LIEST GERADE
Wassermelone
RomanceEmma kämpft sich Tag für Tag durch den tristen Alltag der DDR. Sie ist jung, engagiert in ihrem Beruf, höflich, immer pünktlich und hat schon morgens ein Lächeln auf den Lippen. Doch das ist alles nur Fassade. Emma würde am liebsten aus der DDR flie...