vergesslichkeit

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Vergesslichkeit konnte einem oft in den Rücken fallen. Und das mit solch einer Brutalität, dass man ausgepowert und hungrig ohne Schlüssel, da man den natürlichen vergessen musste, nach der Schule vor der eigenen Wohnungstür stand. Noch schlimmer war es, wenn man dann noch sehr dringend auf die Toilette musste. Und da mein Leben mich liebte, bekam ich immer das Gesamtpaket.

Erschöpft und genervt ließ ich mich an unserer Wohnungstür runterrutschen, bis ich auf dem Boden saß. Zum gefühlten tausendsten Mal in meinem Leben lernte ich das Muster der Fliesen in diesem Treppenhaus auswendig.

Mein Magen gab einen verzweifelten Hilfeschrei von sich. Ich war verdammt empfindlich, wenn es um Essen und meinen heißgeliebten Kaffee ging. Und mein heißgeliebtes Essen und meinen heißgeliebten Kaffee konnte ich nur bekommen, wenn ich diese dumme Tür zerschmetterte. Aber wie Gott es nunmal wollte, war ich nicht so kräftig. Auch fing der Unterricht viel zu früh an, ich konnte morgens praktisch gar nicht an meinen Schlüssel denken.

Ich hörte, wie die Tür unten aufgeschlossen wurde und sah kurz darauf meine Mutter, die die letzten Treppen zu unserer Wohnung erklimmen. Mein Licht in der Dunkelheit!

Sofort sprang ich auf. Mein Leben machte wieder einen Sinn.

Meine Mutter sah mich verwirrt an, während sie gerade den Schlüssel zum Paradies (mein Kaffee und mein Essen und wenn es nach meiner Blase ging, auch die Toilette) aus ihrer Tasche fischte. Ich nickte nur eifrig in Richtung Tür, um ihr somit zu zeigen, dass sie mir doch endlich das Tor zum Himmel öffnen sollte.

"Sag mal, hast du heute in der Schule nichts gegessen?", fragte sie und drehte den Schlüssel im Schlüsselloch um, worauf ein Klicken folgte und ein Minseok, der die Tür aufriss und in die Wohnung reinstürmte.

Etwas überfordert huschte mein Blick von der Küche zur Tür, die zum Badezimmer führte, und wieder zurück. Bauch oder Blase? Meine Blase nahm diese überaus schwierige Entscheidung jedoch zum Glück auf ihre Schultern und so rannte ich auf das Bad zu.

"Jetzt begrüßt mich mein eigener Sohn schon nicht mehr, gut zu wissen.", sagte meine Mutter, während sie Gemüse schnitt.

Ich zog es vor, zuerst einen großen Schluck von meinem Kaffee zu nehmen, bevor ich ihr antwortete. Dann tapste ich zu der kleinen Frau und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

"Hallo, Umma~".

Beim Essen konzentrierte ich mich voll und ganz auf dieses und hörte meiner Mutter nicht zu. Ich wollte nicht wirklich wissen, welchen Mann sie jetzt wieder kennengelernt hatte und wie gut er doch aussehen würde.

Meine Mutter liebte mich zwar, aber für meine Noten und so weiter interessierte sie sich überhaupt nicht. Sie kümmerte sich wenig um mich, kochte nur ab und zu. Ich glaubte, es lag daran, dass sie mich so früh bekommen hatte. Mit sechzehn, um genau zu sein. Dementsprechend war sie zweiunddreißig. Jede Nacht war ein neuer Typ bei uns daheim, in ihrem Bett. So kam es, dass ich nachts öfter mal nicht zu Hause war, da ich einfach keine Lust auf nackte, fremde Männer im Bad oder sonst wo vor meinen Augen hatte. Oder auch keine Lust auf die tollen Geräusche.

"Hey! Minseok, hör mir doch mal zu!", ihre Hand vor meinem Gesicht holte mich aus meinen Gedanken.

"Ob es was Neues in der Schule gibt?", wiederholte sie sich anschließend.

Schnell schüttelte ich den Kopf.

Sie fragte das sowieso nur, weil sie wieder auf ein bestimmtes Thema hinaus wollte.

"Mensch, bring mir endlich mal ein Mädchen mit!"

"Umma...", setzte ich an, doch da plapperte sie schon los.

Am nächsten Morgen kam es mir so vor, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen. Gut, das hatte sie so oder so und das fiel mir jeden Morgen auf. Sobald ich aus meinem Bett gerissen wurde. Das Leben war hart. Und brutal. Und außerdem sollte ich mich um mehr Kaffee am Morgen kümmern, da ich gerade vor Müdigkeit zu sterben drohte. Aber natürlich war das wie immer nicht genug und da ertönte schon mein nicht heißgeliebter Spitzname in der Klasse.

"Morgen, Spätseok!", mein ebenfalls nicht heißgeliebter Sitznachbar steuerte auf unseren Tisch zu.

Ich brummte irgendeine Begrüßung vor mich hin und gab mich mit der Vorstellung, dass dieser Idiot vor mir irgendwann auch mal zu wenig Kaffee haben würde, zufrieden. Jongdae hieß er. Stets grinsend, stets nervend und stets gut gelaunt. Selbst morgens. Aber trotz allem hatte ich den Kerl gerne. Er war schließlich mein bester Freund.

Es dauerte nicht lange, da kam unsere Lehrerin auf ihren hohen Schuhen mit Absätzen, dessen Höhe ihrer Körpergröße Konkurrenz machten, in den Raum geklappert. Im Schlepptau ein mir unbekannter Junge.

"Guten Morgen!", ertönte ihre laute, piepsige Stimme und lenkte somit die Aufmerksamkeit aller Schüler auf sie.

Außer meine. Ich musterte den Unbekannten von oben bis unten und musste feststellen, dass er der vielleicht schönste Mensch war, den ich je gesehen hatte. Er hatte ein unendlich schönes, niedliches Gesicht und erinnerte mich komischerweise an ein Reh. Seine Haaren waren karamell-rotblond (ein anderes Wort dafür wollte mir nicht in den Kopf kommen) gefärbt und sahen verboten weich aus. Als er dann anfing zu reden, stellte sich auch noch heraus, dass er eine wunderschöne Stimme hatte.

Zuhören konnte ich momentan einfach nicht, ich war damit beschäftigt, seine Lippen anzusehen. Die sahen ebenfalls sehr... sehr gut aus. Ein paar Informationen sickerten trotzdem durch.

Luhan, aus China hierher gezogen.

Die Mädchen rasteten aus, wie ich feststellte, und ich starrte ihn weiterhin an. Scheiße, war der schön. Moment, warum dachte ich so einen Unsinn? So denkt ein Junge doch nicht über einen anderen Jungen. Ich dachte doch falsch. Nein, nein, nein. Ich dachte sachlich.

sweet first •xiuhan•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt