lügender frühling

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Luhan schlief schon tief und fest, als ich mit Boxershorts und einem großen Pullover von Luhan in die Küche schlich. Ich hatte schrecklich Durst und mit trockenem Hals konnte ich kein Auge schließen, also griff ich erfolgreich in der Küche angekommen nach einem Glas und öffnete dann eine Flasche Wasser, die neben den paar Gläsern auf der Theke stand. Das kühle Wasser tat unglaublich gut.

"Minseok."

Ich zuckte stark zusammen. Mein Blick flog sofort in die Richtung, aus der die Stimme kam und hielt mit aufgerissenen Augen die Luft an. An dem Küchentisch saß eine zierliche Gestalt. Ohne Zweifel Luhan's Mutter (wer auch sonst, ich befand mich schließlich nicht in einem Horrorfilm... oder doch?). Ich formte mit meinen Lippen eine Antwort, nur kam leider kein Ton raus.
Nach einer Weile, in der ich noch immer keinen Ton rausquetschen konnte, räusperte sie sich schließlich.

"Gut, du musst nicht mit mir reden. Ich will nur, dass du mir zuhörst.", sagte sie mit monotoner Stimme. "Ich will nicht, dass du meinen Sohn verdirbst. Du wirst dich früher oder später sowieso nicht einmal an ihn erinnern."

Was meinte sie?

"Weiß du, er wird ein erfolgreiches Leben führen und gut verdienen. So jemand wie er soll nicht während seiner homosexuellen Phase in seiner Jugend von irgendeinem Mitschüler verdorben werden, der in seinem Leben keine große Rolle spielen wird."

Ich verstand weniger als Bahnhof und meine Kehle wurde plötzlich noch trockener als vorhin. Keine große Rolle?

"Ich will dich nicht mehr mit meinem Sohn zusammen sehen."

Das war das Letzte, was sie sagte. Danach stand sie ohne ein weiteres Wort auf und ging an mir vorbei. Bevor sie die Küche verließ, blieb sie jedoch kurz stehen.

"Ich weiß zwar nichts über dich und dein Leben, aber es ist auch besser für dich, Minseok.", sprach sie ohne mich dabei anzugucken, ehe sie in der Dunkelheit verschwand.

Mir wurde plötzlich schlecht. Meine Brust fühlte sich eigenartig an, schmerzte, als würde jemand meine Rippen zusammendrücken. Meine Kehle brannte. Und auf einmal brach die Angst, dass ich diese Narbe an seiner Lippe nie wieder sehen konnte, über mich hinein und ein leiser Schluchzer entwich mir. Sofort schlug ich mir die Hand auf den Mund. Ich durfte nicht wieder weinen! Ich war ein Jun- Na und? Dann war ich eben ein Junge, Jungen durften auch weinen. Wir müssen uns nichts vorschreiben lassen, wir müssen nicht in diese Geschlechterrollen passen.

Ja, wir waren jung und ja, wir kamen aus sehr unterschiedlichen Familien, aber ich liebte Luhan mehr als alles andere. Die Vorstellung, in seinem Leben keine große oder überhaupt eine Rolle zu spielen, tat weh.

Ich stellte mein Glas in die Spüle, wo noch ein anderes stand, und machte mich auf den Rückweg.

Der Chinese schlief noch immer seelenruhig. Wieder konnte ich, als ich mich hingelegt hatte, durch das wenige Licht des Mondes und der Großstadt sein Gesicht, welches zum Fenster und somit auch zu mir gedreht war, sehen und der Anblick ließ mich trotz meinen nervigen, wässrigen Augen leicht lächeln. Er wirkte so unschuldig, wie ein Engel. Warum dachte ich so oft daran, dass er einem Engel gleicht? Der Kerl hatte mich so was von mit seiner Verrücktheit angesteckt.
Was, wenn ich ihn nie wieder so sehen konnte?

Ein etwas zu lauter Schluchzer entwich meiner Kehle, worauf sich Luhan regte. Ich wollte ihn doch nicht aufwecken! Toll, Minseok, so unfähig zu sein...

"Min?", ertönte seine verschlafene Stimme und ich musste erneut schluchzen, wofür ich mich innerlich verfluchte.

Was, wenn ich seine Stimme nie wieder hören durfte?

sweet first •xiuhan•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt