DIE ABTISSIN VON CASTRO ***
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_STENDHAL_
DIE ÄBTISSIN VON CASTRO
_DER NOVELLEN ZWEITER BAND_
GEORG MÜLLER VERLAG * MÜNCHEN 1922
_Alle Rechte vorbehalten_ * _Erstes bis drittes Tausend_
DIE FÜRSTIN VON CAMPOBASSO
ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL
Ich übersetze aus einem italienischen Chronisten den genauen Bericht über die Liebschaft einer römischen Fürstin mit einem Franzosen. Es war im Jahre 1726, und alle Mißbräuche des Nepotismus blühten damals in Rom; niemals war der Hof glänzender gewesen. Benedikt XIII. Orsini regierte, oder vielmehr: es leitete sein Neffe, der Fürst Campobasso unter seinem Namen alle Geschäfte. Von allen Seiten strömten Fremde nach Rom; italienische Fürsten, spanische Granden, noch reich an Gold der Neuen Welt, kamen in Menge, und wer reich und mächtig war, stand dort über den Gesetzen. Galanterie und Verschwendung schienen die einzige Beschäftigung aller dieser Fremden aller Nationen zu sein.
Des Papstes beide Nichten, die Gräfin Orsini und die Fürstin Campobasso genossen vor allen die Macht ihres Oheims und die Huldigungen des Hofs. Ihre Schönheit hätte sie aber auch aus den untersten Schichten der Gesellschaft hervorgehoben. Die Orsini, wie man sie familiär in Rom nannte, war heiter und, wie man hier sagt, disinvolta, die Campobasso zärtlich und fromm, aber diese zärtliche Seele war der gewalttätigsten Leidenschaften fähig. Obgleich sie nicht erklärte Feindinnen waren und nicht nur jeden Tag sich am päpstlichen Hof trafen, sondern sich auch oft besuchten, waren diese Damen Rivalinnen in allem: Schönheit, Ansehen und Glücksgütern.
Gräfin Orsini, weniger hübsch, aber glänzend, ungezwungen, beweglich und für Intrigen begeistert, hatte Liebhaber, die sie wenig kümmerten und nicht länger als einen Tag beherrschten. Ihr Glück war, zweihundert Menschen in ihren Salons zu sehn und unter ihnen als Königin zu glänzen. Sie lachte über ihre Kusine Campobasso, welche die Ausdauer gehabt hatte, sich drei Jahre hindurch mit einem spanischen Herzog zu kompromittieren, um ihm schließlich sagen zu lassen, daß er Rom binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen habe, wenn ihm sein Leben lieb sei. "Seit diesem großen Hinauswurf", sagte die Orsini, "hat meine erhabene Kusine nicht mehr gelächelt. Seit einigen Monaten ist es klar, daß die arme Frau vor Langweile oder vor Liebe stirbt, aber ihr gewitzter Gatte rühmt dem Papst, unserm Oheim, diese Langweile als hohe Frömmigkeit. Bald aber wird sie diese Frömmigkeit dazu bringen, eine Pilgerfahrt nach Spanien zu unternehmen."
Indes war die Campobasso weit davon, ihren spanischen Herzog zu vermissen, der sie während seiner Herrschaft tödlich gelangweilt hatte. Hätte sie ihn vermißt, würde sie ihn zurückgerufen haben, denn sie besaß jenen in Rom nicht seltenen Charakter, ebenso natürlich und unmittelbar in der Gleichgültigkeit wie in der Leidenschaft zu sein. In ihrer exaltierten Frömmigkeit bei ihren kaum dreiundzwanzig Jahren und in der Blüte aller Schönheit widerfuhr es ihr, daß sie sich eines Tags vor ihrem Oheim auf die Knie warf und ihn um den päpstlichen Segen bat, der -- was nicht genug bekannt ist -- ohne jede vorhergehende Beichte von allen Sünden freispricht, mit Ausnahme zweier oder dreier Todsünden. Der gute Benedikt XIII. aber weinte vor Zärtlichkeit: "Erhebe dich, meine Nichte, du hast meinen Segen nicht notwendig, denn du giltst mehr als ich in den Augen des Herrn."
Aber trotz seiner Unfehlbarkeit täuschte sich Seine Heiligkeit hierin, wie übrigens ganz Rom. Die Campobasso war kopflos verliebt und ihr Geliebter teilte ihre Leidenschaft; und dennoch war sie sehr unglücklich. Schon seit mehreren Monaten traf sie fast jeden Tag den Chevalier von Sénecé, den Neffen des Herzogs von Saint-Aignan, welcher damals Botschafter Ludwigs XV. in Rom war.