Kapitel 1

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Beinahe 50 Jahre sind seit dem Ausbruch des Virus, der seither auch die Mutation genannt wird, vergangen. Es gibt kaum noch Menschen die sich daran erinnern können, wie es vor ihr war. Menschen die, wie Anna, die Mutation überlebt haben.

Wir leben in einer kleinen Stadt, nahe am Meer. Die Tage sind warm und sonnig, die Nächte kühl und ruhig. Alles ist friedlich. Anna hat mir mal erzählt, dass es nicht immer so war. Sie ist eine der wenigen Alten, sie kennt die Welt von früher noch ganz gut. Manchmal erzählt sie uns Sachen bereits mehrmals, aber uns stört das nicht besonders. Sie hat uns erzählt, dass es da, wo sie gewohnt hat sehr viele kriminelle Banden gab. Sie haben Drogen verkauft, Leute erschossen und Frauen vergewaltigt. Als ich vor ein paar Jahren meine Mutter gefragt hatte, ob sie noch etwas von früher weiß, wurde sie sauer. Sie hat mir gesagt ich solle nicht so dumme Fragen stellen, sonst bringe ich mich noch in Schwierigkeiten. Seitdem schweige ich. Die Vergangenheit ist ein gefährliches Gut, und es wundert mich dass sie Anna noch nicht gefunden haben. Schließlich weiß doch jeder was für Geschichten sie den Kindern erzählt.

Der Wecker reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und stehe auf. Heute ist der erste Schultag. Wir hatten einen Monat frei, da Erntezeit ist und die meisten Erwachsenen auf den Feldern arbeiten. Die Stimmung in der Stadt ist sehr gut, es war eine erfolgreiche Ernte dieses Jahr und die Silos sind gut aufgefüllt.

Als ich die Küche betrete, sitzen bereits alle am Frühstücktisch. Mom schmiert sich hektisch ein Brot, Dad schüttet sich seinen letzten Schluck Tee in den Hals und Paul spült hastig seinen Teller ab. "Morgen.", krächze ich müde. Mom sie mich tadelnd an und schiebt mir ein Brot über den Tisch. "Du hast verschlafen, Aria. Iss' das auf dem Weg.", Dad huscht an mir vorbei und bringt seinen Teller zur Spüle. "Morgen Aria.", ich ziehe die Augenbrauen zusammen, nehme das Brot und schiebe mir den ersten Bissen in den Mund. "Morgen Dad.", ich gehe in die Küchenzeile und nehme mir einen Apfel aus dem Korb. Dad und Paul stehen mit dem Rücken zu mir und ich kann sehen, wie Dad Paul in die Rippen stößt. Paul zuckt zusammen und knurrt dann ebenfalls ein Guten Morgen Aria. Ich verdrehe die Augen und verschlinge gierig das Brot weiter. Paul und ich sind, wenn man meiner Mutter glauben darf, wie ein normales Geschwisterpaar. Er ist zwei Jahre älter als ich und arbeitet bereits auf dem Feld. Wir können uns hassen, und uns lieben. Platonisch. Ich schlucke das letzte Stück Brot herunter und beiße dann herzhaft in den Apfel. Dad dreht sich um und schiebt uns aus der Küche. "Los jetzt, sonst kommt ihr zu spät. Ihr wisst doch, heute werden die Impfungen verteilt!"

Der Bach plätschert leise neben dem Feldweg, und die Sonnenstrahlen fallen wie kleine heiligen Scheine durch die Blätter hindurch auf den Boden. Ich trete kräftiger in die Pedalen und lasse Paul hinter mir. Der Wind rauscht an meinen Ohren vorbei. Die Bäume werden etwas weniger und geben den Blick auf die Häuser frei. Von weitem kann ich bereits den weißen Buckel der Kuppel erkennen. Sie glitzert im Sonnenlicht.
Paul holt auf und grinst mich an. "Lust auf ein Wettrennen?". Ich sehe erst ihn und dann sein Fahrrad an. "Ich Bitte dich, mit dem alten Teil? Ich könnte das nicht tun, ich würde mich schlecht fühlen. Du kannst ja nichts für ein schlechtes Fahrrad.", ohne eine Antwort abzuwarten rase ich los. Der Wind zerrt an meinen roten Haaren und ich höre Paul noch fluchen. Ich trete schneller. Das Rennen habe ich schon so gut wie gewonnen. Plötzlich werde ich noch schneller. Es geht bergab. Ich rutsche von den Pedalen ab und reiße hilflos meine Beine nach oben. An mir rauschen die Häuser vorbei und fast hatte ich eine Frau mit ihrem Kind überfahren. Ich kreische ein Es tut mir leid und brettere weiter die Straße runter. Mittlerweile habe ich den Park komplett hinter mir gelassen und rase durch die Straßen. Ich sehe nicht mehr, wie viele Leute zu Seite springen und mich zu entschuldigen habe ich aufgegeben. Irgendwann kriege ich die Pedale zu fassen und bremse sofort so heftig ab, dass mein Hinterrad ausbricht und jede Menge Staub aufwirbelt. Paul kommt neben mir zu stehen und schaut mich schockiert an. Ich starre zurück. Dann grinse ich. "Ha, gewonnen.", "Wenn man davon absieht, dass du die halbe Stadt fast den Hügel mit runtergerissen hast, klar.". Wir brechen in Gelächter aus. Dann stellen wir unsere Fahrräder an einen kleinen Baum. Wir stehen auf einem runden Platz aus Sand. In der Mitte steht ein mächtiges, ovales Gebäude. Ich schaue anderen Kuppel hoch. Wir stehen auf der Südseite und hier ist die Kuppel fast ganz verglast. Ich kann der runden Saal erkennen, in dem die Impfung verteilt werden. Die Kuppel bildet das Zentrum der Stadt. "Wollen wir schon rein gehen?", ich löse meinen Blick von der Kuppel und sehe Paul an. "Nein, ich warte noch auf Bree. ", er verdreht die Augen und nickt. "Ich gehe schon rein und halte dir einen Platz frei.". Ich nicke als Antwort und er geht über den Platz davon, um sich in der großen Traube von Menschen einzureihen. Ich setze mich auf eine Bank und sehe in den Himmel.

Ein einsamer Vogel kreist in den Wolken. Ich kneifen die Augen zusammen, um ihn besser zu erkennen. Es muss wohl ein Adler aus den Bergen sein.

Ich blicke wieder auf den staubigen Platz und sehe jemanden auf mich zukommen. Bree ist im Gegensatz zu uns eine Weiße. Sie trägt, wie alle aus diesem Stand, ausschließlich Weiß. Auch heute hat sie ein weißes Kleid an. Jetzt hebt sie grüßend die Hand und lächelt. "Hallo Aria!", ich stehe auf und grüße zurück. "Bree.". Sie lächelt. Mehr als diese paar Wörter wechseln wir nicht. Die Aufregung ist deutlich zu spüren. Vielleicht gibt es schlechte Nachrichten aus den anderen Städten. Bree nimmt mich an der Hand und wir reihen uns in der Schlange ein. Eigentlich war es nicht nötig, das wir uns vor der Versammlung trafen. Weiße wurden strikt von den übrigen Leuten getrennt. Das gehörte zum guten Ton, da Weiße alle höherer Herkunft waren.

Das fing vor fünfzehn Jahren an. Weiße hatten bis dahin immer in großen Stützpunkten gelebt und für die Regierung gearbeitet. Eines morgens waren plötzlich Luftschiffe am Himmel aufgetaucht und hatten Weiße hier abgesetzt. Sie bezogen die Häuser nahe an der Kuppel, und nahmen so vielen ihre Häuser weg. Die meisten wurden danach obdachlos und zogen an den Stadtrand zu den Feldern. Während alle anderen Bewohner auf den Feldern arbeiten, bleiben Weiße Zuhause. Sie sind die Familien von Politikern oder Kriegshelden. Halten sich für etwas besseres und die wenigsten arbeiten überhaupt. Weiße sind so beliebt wie Kakerlaken in einem Sandwich.

Irgendwann wird Bree aus der Schlange geholt und durch einen Nebeneingang in den Saal geführt.

*

Paul hatte sogar ein paar sehr gute Plätze bekommen. Wir sitzen dieses mal relativ weit oben. Bree kann ich ebenfalls unter den Weißen ausmachen. Sie sitz neben ihrer Schwester. Ein paar letzte nehmen ihre Plätze ein und dann wird die amerikanische Nationalhymne eingespielt. Eine dunkelhaarige Frau in einem schwarzen Kleid betritt die kleine Bühne. Geduldig wartet sie das Ende der Musik ab, bis sie sich räuspert.

"50 Jahre ist es nun her, seit die Mutation das Leben wie wir es kannten ausgerottet hat. 50 Jahre, in denen wir lernen konnten. Mittlerweile gilt das Virus als eliminiert.", sie macht Pause und der ganze Saal klatscht.
"Nach und Nach bauten die Menschen neue Städte. Sie wollten eine Zuflucht. Ein sicheres Zuhause. Vor 48 Jahren gab es dann den unverhofften Durchbruch. Doktor Percyval James Dorian entwickelte ein Impfstoff und verhindete so für alle Zeiten, dass sich das Virus erneut ausbreiten kann. Seither ist Doktor Dorian unser Präsident. Unsere Hoffnung. Auf das so ein Unglück, die Auslöschung 2/3 der Menschheit, nie wieder vorkommen wird.", der ganze Saal wiederholt die Wörter andächtig. Unsere Hoffnung raunt durch den Saal. Ich sehe auf meine Hände. 2/3 der Menschheit, wiederhole ich leise. Die Frau fährt fort.

"Wie jedes Jahr wird auch dieses Jahr an jeden einzelnen Einwohner der Impfstoff verteilt. Diesen holen sie sich bitte, nachdem ihr Name aufgerufen wurde.". Sie fährt noch mit ein paar Informationen aus den anderen Städten fort. Wie die Einwohnerzahl dort ist und wie die Ernte verlaufen war. Anscheinend gab es im äußersten Sektor, im Süden einen Brand, der einige Leben kostete. Man schrieb ihm einem Buschfeuer zu. Dann erklingt noch einmal die Hymne. Die Frau verschwindet und es werden große Kästen auf die Bühne gerollt. Die Sitze leeren sich und alle versammeln sich vor der Bühne. Ich versuche Bree in der Menge auszumachen, und als ich sie entdecke dränge ich mich zu ihr hindurch. "War das selbe wie immer.", murmelte ich und sie nickt. "Das Feuer schien schlimm zu sein. Hoffentlich erholt sich diese Stadt wieder davon.", "Die erleben so etwas doch häufiger im Süden.". Bree zuckt mit den Schultern. Dann ertönt eine Stimme von der Bühne. "Sabrina Ringer.", Bree sieht mich an und verschwindet dann zwischen zwei Männern. Natürlich wird sie sofort aufgerufen, schließlich ist sie eine Weiße. Ich sehe mich um und dränge mich an einem dickbäuchigen Mann vorbei. Wir werden von einem Weißen dazu aufgefordert eine Schlange zu bilden, jedoch herrscht weiterhin unruhiges Gewusel im Saal. So war es jedes Jahr. Ich kann den Weißen entdecken und sehe gerade noch, wie ihm ein kleiner Bauernjunge gegen das Schienbein tritt. Dann gehen die beiden in der Menge unter. Ich kichere. Ich drehe mich um und versuche meine Eltern zwischen den Leuten auszumachen. Vielleicht wäre so eine Schlange doch ganz praktisch. Ich kann sie nirgends entdecken, nur Pauls dunkelroten Haare tauchen manchmal in der Menge auf. Ich höre wie etliche Namen aufgerufen werden. Ich höre wie Paul aufgerufen wird. Dann müsste ich als nächstes an der Reihe sein. Ich dränge mich nach vorne zur Tribüne. "Hanyes Zinner." . Verwirrt bleibe ich stehen. Da fehlt mein Name. Ich schiebe mich immer weiter vor zur Tribüne. Weitere Namen werden aufgerufen, meiner ist nicht dabei. Ein Herr steht auf und erklärt die Impfung für erfolgreich abgeschlossen. Aber sie haben mich nicht aufgerufen.

Warum haben sie meinen Namen nicht aufgerufen?

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 29, 2015 ⏰

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