Kapitel 3

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Sie sind nicht nach Hause gekommen. Sie waren nicht hier und haben nach mir gefragt, dachte ich wütend. Sie haben noch nicht einmal angerufen.
Und ich habe schon gedacht, das wär's erstmal gewesen mit der Heulerei.

Von wegen.

Schluchzend, schniefend und wütend über meine Eltern schimpfend liege ich nun wieder seit zehn Minuten in Colins Armen und er streichelt mir wieder den Rücken.

"Wie konnten sie nur?", fragte ich, als ich wieder Luft zum Atmen hatte. "Ich bin ihre Tochter!" Ich beschließe, selbst anzurufen.

"Hast du ein Telefon?", frage ich Colin und er nickt. "Hier." Er drückt mir ein altes Nokia-Aufklapphandy in die Hand. Ich staune nicht schlecht.

"Ist... ein wenig alt", meint Colin, doch ich winke ab und bedanke mich. Ich tippe die Nummer von meiner Mutter ein, nach dem zweiten Klingeln geht sie ran. "Maria Furthersdale, was kann ich für sie tun?"

Ich schüttle den Kopf. Immer denkt sie an ihren Job, nicht mal an ihr Privathandy kann sie rangehen wie ein normaler Mensch.

"Hi Mom, ich bin's", sage ich.

Erst kommt lange keine Antwort, dann raschelt es im Hörer.

"Tut mir leid, wer ist da?", meldet sie sich daraufhin nochmal.

"Ich bin's", antworte ich erneut.

"Kenne ich sie?"

Tränen steigen mir in die Augen. Colin nimmt mich schnell in den Arm.

"Mom, verdammt", rufe ich in den Hörer. "Ich bin's, deine Tochter. Carolina."

Daraufhin wird es still in der Leitung. Schließlich sagt sie wieder was.

"Achso, ich habe dich gar nicht erkannt!" Ach echt? Habe ich gar nicht gemerkt. Man hört die Lüge durchs Telefon. Sie hat mich vergessen. Und sie hat nur keinen Bock, mit mir zu reden, das ist alles.

"Wie geht's dir?", will sie wissen und ich würde ihr am liebsten eine reinhauen. Wie es mir geht???

"Ganz gut", sage ich mit gespielter Fröhlichkeit, und bevor sie 'das ist ja schön' sagen kann, rede ich weiter: "Ich liege im Krankenhaus, Mom. Mit einer Prothese als Bein."

In dem Moment hört man im Hintergrund ein Telefon klingeln.

"Du, Schatz, ich habe dich gerade nicht verstanden", sagt Mom. "Ruf mich später noch einmal an, bei mir klingelt gerade das Telefon, das ist sehr wichtig."

Die Tränen steigen mir in die Augen. Wie kann sie nur? Ich bin ihre Tochter! Sie ist meine Mom, sie muss sich doch um mich kümmern.

Ich liege im KRAKENHAUS, mit einer PROTHESE ALS BEIN und sie interessiert es einen Dreck!

Noch bevor mir der laute Schluchzer entweicht und ich zum dritten Mal heute in Colins Armen liege, drücke ich auf den roten Hörer und schmettere das Telefon auf meine Bettdecke.

Während ich vor mich hinheule und Colins grünes T-Shirt vollrotze, sagt er kein Wort, sondern streichelt mir einfach nur über den Rücken. Und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.

-

Am nächsten Tag wache ich früh auf. Colin ist nach Hause gegangen, auch wenn er partout nicht gehen wollte, doch die Krankenschwester hat ihm verboten, hierzubleiben.

Ich setze mich auf und schlage die Bettdecke zur Seite. Der Anblick des Metall-Plastikmixes an meinem Bein macht mir immernoch ein wenig Angst, doch ich ignoriere es einfach.
Ich muss aufs Klo.

Ich schwinge erst das linke Bein aus dem Bett, dann hieve ich das rechte hinterher. Ich drehe mich auf die Seite und stütze mich am Kopfende ab, um Halt zu haben. Dann belaste ich erst das linke Bein. Fast sofort schießt der Schmerz in den Oberschenkel. Fest beiße ich die Zähne aufeinander und versuche, den Schmerz zu ignorieren, dann belaste ich auch das rechte Bein mit der Prothese. Auch der rechte Oberschenkel tut höllisch weh, doch den Unterschenkel spüre ich nicht.

Wie bei einem Holzbein, denke ich mit zusammengebissenen Zähnen und habe sofort das Bild von einem alten Piraten mit Augenklappe, grauem Bart und Holzbein im Kopf.

Ich wippe von rechts nach links, um meinen Unterkörper an das Gewicht zu gewöhnen.

Als ich denke, dass ich es probieren sollte, hebe ich das rechte Bein an und setze es ein Stück vor mir auf den Boden. Dann das linke Bein. Rechts, links. Rechts, links. Während ich langsam an der Wand entlang in Richtung Klo laufe, klopft es plötzlich an der Tür. Na super.

Jetzt kommt bestimmt die Schwester rein und fragt mich, ob ich Hunger habe, denke ich und in meinen Gedanken taucht ein Bild von dem ekligen, grauen Krankenhausbrei auf. Sofort schüttelt es mich.

Doch es ist nicht die Schwester. "Carolina?", höre ich Colins Stimme durch die Tür. Sofort macht meim Herz einen Satz. Colin!

Die Tür geht auf. Colin fallen fast die Augen aus dem Kopf, als er mich da im Zimmer stehen sieht, beide Hände an der Wand.

"Carolina, was machst du denn? Du musst zurück ins Bett!", ruft er aufgeregt, und will mich schon hochheben und zum Bett tragen.

"Nein, Colin, warte", sage ich und er hält inne. "Ich muss aufs Klo."

Erst schaut er etwas perplex, dann nickt er. "Äh... okay. Soll- soll ich dich...", stammelt er und fuchtelt wild mit seinen Händen herum.

Er fragt, ob er mich zur Toilette tragen soll, denke ich und muss kurz grinsen.

"Nee, geht schon" sage ich. "Außerdem will ich das Laufen mit dem Ding da", ich gucke zu meiner Prothese, "üben, du kannst mich schließlich nicht die ganze Zeit überallhin tragen." Jetzt muss auch Colin grinsen.

"Okay", sagt er und hebt die Hände, als wolle er sich ergeben.

Ich nicke, dann werde ich wieder ernst. Jetzt kommt der schwerste Teil. Ich muss ein paar Schritte ohne Festhaltemöglichkeit laufen.

Als Colin bemerkt, was ich vorhabe, will er aufstehen, um mir zu helfen, doch ich schüttle nur stumm den Kopf. Er setzt sich wieder hin und schaut mir interessiert zu, allerdings bereit, mir sofort zu helfen.

Es ist eine wackelige Angelegenheit, doch mutig löse ich die linke Hand von der Wand. Dann setze ich das linke Bein vor mir auf den Boden. Colin zieht scharf die Luft ein, doch ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen.
Links, rechts, links rechts, links...

Als ich schließlich an der anderen Wand angelangt bin, treten mir die Tränen in die Augen.

"Ich hab's geschafft", flüstere ich leise. "Ich kann laufen."

Eine kleine UnendlichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt