Kapitel 2

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Als ich am nächsten Morgen aufwache und verschlafen auf meinen Wecker schiele, bleibt mir fast das Herz stehen. 09.13 Uhr. Scheiße! Ich bin viel zu spät dran, die erste Stunde hat längst angefangen! Wenn ich mich beeile, würde ich vielleicht gerade so noch zur Zweiten ins Klassenzimmer kommen.

Ich springe aus dem Bett und reiße meinen Kleiderschrank auf. Dort krame ich eine hellgraue Bluse und einen schwarzen Cardigan heraus, dazu eine dunkelblaue Jeans. Dann knalle ich die Schranktüren wieder zu und rase ins Bad. Ich brauche keine zwei Minuten, um fertig angezogen zu sein. Ich tusche mir schnell die Wimpern und kämme mir die Haare, das muss reichen.

Zurück in meinem Zimmer stopfe mein Mäppchen und einen Block in meine Tasche, dann renne ich nach unten, schnappe meinen Schlüssel, ziehe mir Schuhe an und renne nach draußen. Ich schließe die Haustür ab, anschließend hole ich mein Fahrrad aus der Garage und radele quer über Moms teuren Golfrasen durch die Einfahrt.
Der Wind, der mir um die Nase weht, tut gut, er macht mich wach.
Während ich so dahinfahre, denke ich über meine Eltern nach. Wenn sie wegfahren, frage ich schon gar nicht mehr, wo sie eigentlich hingehen, doch das ist eh egal. Fakt ist, sie sind weg und ich war allein. Mal wieder.
Als ich in die Straße der Schule einbiege, sehe ich das Auto nicht, das aus der Parklücke geschossen kommt und mich anfährt. Das Letzte, was ich sehe, bevor ich auf den Boden schmettere, ist das Gesicht eines Jungen, den ich zwar schon einmal gesehen habe, aber nicht zuordnen kann.

Als ich wieder zu mir komme, tut mein rechtes Bein höllisch weh und mein Kopf pocht schmerzhaft. Was ist passiert?
Ich öffne die Augen und schaue an mir herab. Ich liege in einem gewöhnlichen Krankenhausbett, unter einer weißen Decke. Ich setze mich auf und schiebe diese beiseite, um mein schmerzendes Bein anzuschauen. Doch... Da ist kein Bein...mehr.
Nur eine metallene Prothese.
Ich stoße einen erstickten Schrei aus. "Nein", flüstere ich leise und eine Träne kullert mir die Wange hinunter. Als dann auch noch jemand hinter mir verschlafen "Hey, du bist ja wach" murmelt, gibt mir das den Rest. Ich stoße einen schrillen, lauten Schrei aus, schlage die Hände über dem Kopf zusammen und fange an, hemmungslos zu weinen.
Ich weiß nicht, wie lange ich geweint habe, bis der Junge, der an meinem Kopfende gesessen und offensichtlich geschlafen hatte, mich in den Arm nimmt und mir beruhigend über den Kopf streichelt.
Später erfahre ich, dass er mich angefahren hat.
Ich bin vom Fahrrad gefallen und mein Bein war so seltsam unter sein Auto gerutscht, dass es schließlich amputiert werden musste. Und jetzt habe ich eine Prothese.
"Warum hast du mich immer noch im Arm?", frage ich, nachdem ich mir mit dem Ärmel des weißen Krankenhausschlafanzuges die Nase abgewischt habe. Er schaut mich an und meint: "Ich habe gelesen, dass man das machen soll, wenn Mädchen traurig sind."
Traurig ist gar kein Ausdruck.
"Ich bin übrigens Colin. Colin Booker", sagt er. "Ich gehe in die Zwölfte."
Daher kenne ich ihn also, wir sind auf derselben Schule!
"Carolina", stelle ich mich vor. "Ich bin in der Elften."
Colin nickt. "Ich kenne dich", meint er. "Du bist die, die letztes Jahr den Flur mit Cola überflutet hat." Jetzt grinst er.
Ich verdrehe die verquollenen Augen. Muss er mich ausgerechnet jetzt daran erinnern? Damals bin ich deswegen das Schulopfer gewesen.
Es ist nämlich so: Ich hatte eine 2-Liter Flasche mit Cola in meinem Spind, die ungefallen ist, als ich die Spindtür zugemacht habe. Ich habe mir dabei nichts gedacht, sondern bin einfach gegangen. Ich wusste nicht, dass der Deckel der Flasche abgefallen ist und am Ende des Schultages hat sich die Cola über den gesamten Flur verteilt. Und sie ist aus meinem Spind herausgelaufen.
"Ja", meine ich, peinlich berührt. "Genau die bin ich."
Er grinst.
"Was machst du eigentlich hier?", frage ich nach einer längeren Pause. Erst sagt er lange nichts.
"Wegen dir", meint er schließlich. "Ich konnte nicht einfach weiterfahren, ohne zu wissen, ob ich nicht gerade jemanden überfahren habe." Er schaut aus dem Fenster. "Ich bin mit dir im Krankenwagen hergefahren und habe hier gewartet. Und..." - "Hier gewartet?", rufe ich. "Ich wurde operiert und lag danach bestimmt...", ich stoppe. "Wie lange war ich bewusstlos?"
"Fünf Tage."
"FÜNF TAGE?" Ich schreie fast. Dann werde ich leiser. "Du hast fünf Tage hier gewartet?" Er nickt bloß.
Und schlagartig fällt mir ein, dass jemand fehlt. Wo sind meine Eltern?
Genau das frage ich ihn. Und das, was er antwortet, macht mich wütend und traurig zugleich.

Eine kleine UnendlichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt