Taigaai

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Ich beobachte gerne Menschen. Ich frage mich, wohin sie gehen, ob sie ein bestimmtes Ziel haben oder einfach ziellos herumschlendern? Leben sie allein oder haben sie eine Familie? Wie sieht ihr Alltag aus und was hat sie an diesen Platz geführt? Was denken sie gerade, wenn sie über den Platz gehen? Die meisten der Menschen sehe ich ein oder zwei Mal, danach nie wieder... Ausser ihn...

An jenem Herbstmorgen bemerkte ich ihn, einen jungen Mann. Schwarze Winterschuhe, schwarze Hosen und ein schwarzer Mantel. Die Luft war kalt und roch nach Winter und Schnee. Er schien zu warten, denn er schaute sich immer wieder um. Ich beobachtete ihn neugierig. Seine Blicke schweiften über den Platz und blieben hin und wieder bei seiner Armbanduhr hängen. Seine Verabredung hatte offenbar Verspätung. Dann blieb sein Blick an mir hängen, interessiert erwiderte ich ihn. Lange sahen wir uns in die Augen. Seine Verabredung ließ sich Zeit. Unsere Blicke hatten sich immer noch nicht voneinander abgewandt. Mich faszinierten seine Augen, ich sah Einsamkeit darin, dieselbe Einsamkeit, die mein Herz ausfüllte und langsam zerstörte. Nach weiteren Minuten des gegenseitigen Musterns kam dann seine Verabredung und unsere Blicke wurden getrennt. Lange schaute ich ihm nach...

Eine Woche verging. Dann sah ich ihn wieder. Er hatte mich wohl vergessen, denn er schaute nie in meine Richtung. Irgendwie stimmte es mich traurig und ließ meine Einsamkeit wachsen.

Ab da sah ich ihn immer wieder. Unbewusst suchte ich nach seinen schwarzen Haaren, den grauen Augen und der schwarzen Kleidung. Nach einiger Zeit gab ich ihm den Namen Shadow...

Ich mochte es, ihn zu beobachten. Mit der Zeit lernte ich an seiner Haltung abzulesen, ob er gut gelaunt war oder ob er einen schlechten Tag hatte. Meine Gedanken drehten sich immer mehr um ihn. Wer war er? Wie hieß er wirklich? Wieso lief er immer an diesem Platz vorbei?

Seine Augen faszinierten mich immer noch. Sie erzählten einen Teil seiner Geschichte, einer traurigen Geschichte. Ich sah Angst darin, Misstrauen und Sehnsucht.

Es war zwei Wochen vor Weihnachten. Die Luft war erfüllt vom Duft von verschiedenem süssen Gebäck und frisch gefallenem Schnee. Ich wartete auf Shadow, doch er tauchte nicht auf, er war sonst jeden Tag hier vorbei gekommen. Ich machte mir Sorgen. Meine Gedanken drehten sich im Kreis und ich versuchte vergeblich, mich zu beruhigen. Ich wartete bis tief in die Nacht, bevor ich meinen nächtlichen Rundgang machte und mir etwas zu essen suchte...

Zwei Tage sah ich ihn nicht. Dann war er wieder da. Erleichterung machte sich in mir breit. Er war wieder da. Doch etwas stimmte nicht. Er ging gebückt, als hätte er Schmerzen, seine Augen waren erfüllt von einer tiefen Traurigkeit und Angst. Die Sorgen waren wieder da. Mit ihnen immer mehr Fragen. Was hatte man ihm angetan? Wieso hatte man ihm das angetan? Ich wollte nicht, dass es ihm schlecht ging, aber ich konnte nichts tun. Ich war machtlos...

Die nächsten Tage schien es ihm besser zu gehen. Ich merkte es an seiner Haltung. Ich war froh darüber...

Es war der 24. Dezember, Weihnachten, die Luft war von Fröhlichkeit erfüllt und die Menschen waren glücklich. Ich saß, wie immer unter Tags, auf meinem Fenstersims und beobachtete die Menschen durch das alte Fenster des baufälligen Hauses. Hier wohnte schon lange niemand mehr außer mir. Ich fühlte mich einsam. Meistens machte es mir nichts aus, allein zu sein, aber an Weihnachten, am Fest der Liebe, wuchs meine Einsamkeit.

Der Platz war belebt und es waren viele Familien unterwegs. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich hatte schon lange keine Familie mehr. Hoffentlich würde Shadow heute vorbei kommen...

Er kam, aber irgendetwas stimmte nicht. Angst beherrschte seine Augen. Er sah immer wieder über die Schulter und in der linken Hand hielt er verkrampft einen Gegenstand, den ich nicht erkennen konnte. Nervös begann er, auf und ab zu laufen. Meine Augen folgten ihm. Es dämmerte bereits und es würde schnell dunkel werden. Der Platz war leer, bis auf Shadow, heute würde niemand mehr vorbei kommen. Dachte ich. Schatten traten aus der Dunkelheit und gingen auf Shadow zu. Sie stellten sich im Kreis um ihn auf. Der Grösste baute sich vor Shadow auf, Shadow schaute zu Boden und reichte ihm den Gegenstand, den er in der Hand gehalten hatte. Unbemerkt hatte sich mein Körper angespannt und in Angriffsposition gebracht. Der Anführer schaute auf den Gegenstand und warf ihn weg. Er trat näher an Shadow, schrie irgendetwas und schlug zu. Das schien das Zeichen für die Anderen zu sein und auch sie fingen an, auf ihn einzuschlagen. Nein! Ich bewegte mich wie automatisch und schlüpfte aus dem Haus. Mein Körper schnellte los wie eine Bogensehne, meine Krallen gruben sich tief in den Schnee, bevor sie mich kraftvoll wieder nach vorne katapultierten. Schnell war ich bei der Gruppe angekommen. Ich sprang den Anführer an und biss ihn in den Oberarm. Ich sprang wieder runter und stellte mich schützend über Shadow, biss und kratzte alles was ihm zu Nahe kam. Vor Schlägen war auch ich nicht geschützt, aber ich spürte nichts. Nach weiteren Minuten ließen sie endlich von uns ab. Der Geruch von Blut stieg in meine Nase und besorgt schaute ich in Shadow's Gesicht. Seine grauen Augen waren geschlossen und sein Gesicht zu einer Maske aus Schmerz erstarrt. Blut rann aus verschiedenen Wunden, vorsichtig begann ich ihn zu säubern. Ich wollte Hilfe holen, doch ich konnte nicht, ich war machtlos. Die Leute hatten Angst vor mir, nur weil ich anders war. Eltern zogen ihre Kinder von mir weg und verjagten mich, einige warfen Gegenstände nach mir sobald sie mich sahen. Deshalb war ich nur nachts unterwegs. Familie hatte ich schon lange keine mehr. Langsam spürte ich die schmerzhaften Schläge der Bande. Ich schaute mich nach dem Gegenstand um. Es war ein schwarzes Kästchen mit einer wunderschönen, filigran gearbeiteten silbernen Kette. Vorsichtig legte ich die Kette wieder gerade ins Kästchen, klappte es zu und legte es auf Shadow's Brust. Erschöpft und entmutigt legte ich mich nah neben ihn. Heute würde niemand mehr vorbei kommen, niemand würde uns finden. Ich war müde. Ich wusste, wenn ich jetzt einschlief, würde ich vielleicht nie wieder aufwachen. Es war mir egal, mich brauchte niemand. Wenn ich Shadow schon nicht helfen konnte, würde ich ihn wenigstens begleiten. Ich schloss meine Augen, vorbereitet auf den Tod. Es wurde ruhig, still. Eine seltsame Gelassenheit breitete sich in meinem Körper aus. Die Schwärze kam unbemerkt. Ich hatte nicht die Kraft mich dagegen zu wehren. Ich liess es geschehen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 19, 2015 ⏰

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