Haben sie auch nichts vergessen?

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Haben sie auch nichts vergessen?

Es war nachmittags, als ich in den Zug einstieg. Ich hatte keine Ahnung, wie lange die Fahrt dauern würde und wohin die Fahrt überhaupt gehen würde. Ich war nur am Bahnhof gewesen, wie alle anderen auch, als ich plötzlich in den Zug gezogen wurde. Alles geschah so schnell, so dass ich gar nicht anders reagieren konnte. Dieser Zug war nicht sehr voll mit Menschen, dafür aber mit unheimlich viel Gepäck. Ich war, wie alle anderen, still und sprach kein Wort. Überall im Zug herrschte Stille. Noch nicht einmal ein Kontrolleur kam und fragte nach einer Fahrkarte. Jeder blieb für sich allein und versuchte gewissenhaft sein Gepäck zu bewachen. Immer mal wieder hielt der Zug an. Einige stiegen aus und andere stiegen ein. An jedem Bahnhof standen viele Menschen. Die Menschenmenge war gar nicht mehr zählbar. Zwischen den Menschen stand Gepäck, doch es war viel zu wenig Gepäck für diese ganzen Menschenmasse. Ich konnte beobachten, das die Menschen, die einstiegen, unheimlich viel Gepäck hatten, aber die Menschen, die ausstiegen, hatten fast gar kein Gepäck mehr.

Die Zeit vergin, doch ich wusste, das ich noch weiter fahren musste. Ich war noch nicht am Ziel, auch wenn ich selber gar nicht wusste, wo mein Ziel war. In diesem Zug gab es nichts, woran man sich halten konnte. Es gab nur instinktives Wissen. An meinem Bahnhof warnten die Menschen oft vor den Zügen, denn wer einmal dort einstieg, wurde nie wieder gesehen. Die Menschen, die ausstiegen kannte keiner. Sie waren seltsam, zogen sich zurück und blieben für sich allein.

Irgendwann kam ein Bahnhof und ich wusste, es war mein Ziel. Beim aussteigen sah ich das Schild an der Zugtür. „Haben sie auch nichts vergessen?“ stand in weißer Schrift auf blauem Hintergrund darauf. Nein, ich hatte nichts vergessen, dachte ich voller Stolz und Überzeugung. Kaum stand ich am Bahnhof, fuhr der Zug schon los. Ich sah lauter fremde Menschen und nur sehr wenig bekannte Gesichter aus dem Zug. Die Menschenmasse schob mich nach hinten, in Richtung Bahnhofsgebäude. Am Bahnhofsgebäude angekommen ließ ich mich auf den Boden fallen. Mein Gepäck war auf einmal so schwer. In diesem Moment wusste ich, dass etwas nicht stimmte, doch ich kam nicht darauf. Um mich herum wurde es kälter, dunkler und einsam. Ich öffnete mein Gepäck, denn ich wusste, das dort drin Wärme, Freude, Helligkeit, Zuversicht und alle anderen schönen Gefühle sind. Doch die ganzen schönen Gefühle waren weg. Zurückgeblieben waren nur die bösen, schlechten und kalten Gefühle. Deswegen war das Gepäck so schwer, schoss es mir in den Kopf. Ich hatte also doch etwas vergessen und ich wusste genau, dass ich meine schönen Gefühle nie wieder bekommen konnte. Man sah niemals den selben Zug wieder. Ich könnte mir nur von anderen Menschen die schönen Gefühle klauen.

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