Kutzgeschichte - 2

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Ich rannte die Pflastersteine entlang. Meine glatten Sohlen rutschten auf den nassen Steinen. Der Regen strömte mir ins Gesicht. Meine Wimperntusche verlief und ich konnte die dunklen Schatten unter meinen Augen erkennen. Es war gut, dass es stürmte. So sah man wenigstens nicht das ich weinte. Ich rannte weiter. Ohne anzuhalten oder Luft zu holen. Mein Atem fiel schwer. Die Luft um meine Nasenflügel färbte sich weiß und die Dunst verflog so schnell in dieser kalten Nacht. Neben mir fuhren dunkle Autos mit hellen Scheinwerfern und vor sich hin bewegende Scheibenwischer über die lange Brücke. Als ich mitten darauf stand hielt ich inne. Ich führte meine Hand an das metallische Geländer. Es war eiskalt, der Frost verteilte sich blitzschnell in meinen Fingerspitzen. Von dort aus tastete er sich weiter zu meinen Knöcheln bis er das Handgelenk umschloss. Jeder hätte sie gleich darauf zurück in seinen Mantel gesteckt und sie aufgewärmt. Ich hielt dem Schmerz stand. Bald würde er mir eh nichts mehr ausmachen. Ich legte die zweite Hand ebenfalls an die Stange. Wieder zog sich die Kälte hindurch und nistete sich ein wie eine Familie von Mäusen wenn der Winter nahte. Ich blickte auf das schwarze, ruhige Wasser, das sich nur leicht mit dem Wind bewegte. Ich wischte mir meine Tränen aus den Augen und betrachtete den Mantel. An der Stelle wo das salzige Wasser einsackerte schien es dunkler und feucht. Langsam legte ich die Hand wieder zurück auf das Geländer. Lange stand ich dort und nahm tiefe Atemzüge. Die letzten.
Ich bemerkte es erst nicht doch plötzlich fühlte ich Wärme um meinen rechten Handrücken. Ein leichter Schleier, wie ein einzger Sonnenstrahl, der die eiskalten Finger auftaute. Vorsichtig wendete ich den Kopf. Es war ein Mädchen, dass neben mir stand. Ihre langen braunen Haare wehten in diesem leichten, kalten Wind der uns von vorne entgegen blies. Sie trug ein so lockeres weißes Kleid, das eine leicht durchsichtige Seide besaß. Diese flatterte ebenfalls im Wind vor sich hin. Sie ging barfuß, wackelte mit den Zehen und hob sie abwechselnd leicht in die Höhe. Ich hätte ihre nassen Schritte hören müssen, sie hätte längst erfroren sein müssen, sie hätte mich nicht wärmen können. Sie wanderte mit den zwei Fingern, die sie auf meine Haut gelegt hatte weiter nach vorn, bis sie die ganze Hand umschloss. Ich blickte in ihre Augen. Sie waren groß und weit und dieses olivgrün strahlte. Jedoch schaute sie traurig drein. Ihre Mundwinkel waren hoffungsschöpfend nach oben gehoben jedoch schienen ihre schmalen Lippen so trocken und spröde, als hätte sie Wochen nichts trinken können. Die Wassertropfen perlten von ihrem dunklen Haar ab. Ich konnte nichts sagen, denn etwas schnürte mir den Hals zu, wie ein seidiger Faden, der sich darum gelegt hatte. "Spring nicht." Ihre Stimme klang leise und sachte in meine Ohren hinein. Wie ein Lied, eine Melodie, die ich schon seit Kind auf kannte und sie nur in meinem Gedächtnis verlegt hatte. Langsam löste sich die Schnur, Luft strömte wieder in meine Lunge. "Wer bist du?" Es waren die einzigen Worte, die ich in diesem Moment herausbrachte und sie klangen so fremd, kratzig und unbeholfen, als wären sie nicht aus meinem Mund gekommen. Sie lächelte und in ihren Augen tat sich ein helles Blitzen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann erst fielen mir die zwei Strasssteinchen auf. Sie klebten auf ihrem Wangenknochen und die ovale Form in der olivgrünen Farbe glichen ihren Augen. "Ich", setzte sie in der gleichen beruhigenden Stimme wie vorhin an, "bin Luna." Ich fing an zu zittern. Mir war eiskalt, obwohl ich einen Pullover und einen Mantel trug. Bei dem seltsamen Mädchen stellte sich nicht ein einziges Haar auf. Wieso fror sie nicht? "Wieso sollte ich nicht?" Ich kam auf das Thema zurück. Wieso ich springen wollte? Wäre eine ganz andere Geschichte. Sie wendete ihren Blick ab. Zuvor hatte sie mich lange angesehen. Ich wischte mir mit dem Ärmel den Regen oder die Tränen aus den Augen. Ich war nicht sicher, was es war. "Es wird nicht das gleiche sein. Für dich nicht wie für mich. Wenn du Springst dann.., dein Leben ist so kostbar. Begehe nicht den gleichen Fehler wie ich." Ich zog meine Augenbrauen zusammen. "Was interessieren mich denn deine Fehler und was sich für dich ändern wird?", meinte ich angespannt. Man konnte den Unterton in meiner Stimme leicht hören. Ich sah ein schnelles Lachen über Lunas Gesicht huschen. "Genauso kenne ich dich. Genauso hab ich dich immer gesehen. Ein starkes Mädchen mit ihrer eigenen Meinung und jetzt willst du dein ganzes Leben wegen ihm aufgeben?" Ihre Augen schienen für den Moment noch etwas größer. Ich sah zu Boden. Auf meine Balerinas die vollkommen durchnässt waren. Ich blickte an ihr hoch. Sie konnte nicht von hier kommen. Sie wusste zu viel über mich. Es schien mehr zu sein, als ich über mich selbst wusste. Mein Mund wurde erneut trocken und ich versuchte ihn durch schlucken feucht zu machen. "Wer bist du?", fragte ich erneut. Sie sah mir tief in die Augen. "Ein Engel" Ihre Stimme stockte. Dann sah sie auf das ruhige Wasser unter uns. "Dein Engel." Ich fing wieder an zu weinen. Es hatte keinen Grund aber ich fühlte so ein Loch tief in meiner Brust, das unendlich weh tat. Luna streckte vorsichtig ihre Hand zu mir aus. Mit warmen Fingern strich sie mir die Tränen von den Wangen. Ich ging einen Schritt zurück. legte beide Hände fest an die Stange und drückte mich ab. Setzte den linken Fuß vor den rechten und blickte hinab in das tiefe, schwarze Wasser. Meinen Rücken nah am Geländer haltend blickte ich einfach nur hinab. Der Regen wurde wieder stärker und meine Haare fielen schwarz strähnig auf meine Schultern. Im nächsten Moment stand Luna wieder neben mir, sie war ebenfalls über das Geländer geklettert. "Ich kann dir nicht vorschreiben was du tun sollst, aber ich kann dir sagen, dass es für dich zu früh ist." Ihre Stimme klang in meinen Ohren wie ein Vorwurf. Ich nahm mir vor zu springen. Was sollte mir dieser Engel schon sagen? Mein Schutzengel? Dann würde er mich wohl beschützen. Ich machte wieder mit meinen Füßen einen kleinen Schritt nach vorn. Sie kippten genau auf der Steinkante, meine Hände jedoch waren wie mit dem Geländer verschweißt. Ich sah zur Seite. Erst da bemerkte ich, dass auch Luna weinte. Sie wusste, dass ich springen würde. "Was wartet auf mich?", fragte ich sie. Sie schwieg eine Weile. "Du wirst ein Schutzengel, wie ich. Das ist so wie eine zweite Chance. Eine zweite Chance zu leben, indem du einen Menschen bis zu seinem Tod begleitest.", erklärte sie sanft. Ich löste vorsichtig meine Hände vom Geländer um es dann wieder richtig packen zu können. Es war rutschig. "Und was ist dann mit dir?" Ich warf einen Blick in ihre Augen sie waren geschwollen und sie blickte traurig. Kaum waren die Worte von meinen Lippen gekommen rutschte der Boden unter meinen Sohlen weg. Ich stürzte wollte mich halten, dann sah ich wie auch Luna fiel. Sie war schneeweiß und ihre Augen waren geschlossen. "Nein!!!", schrie ich aus leibeskräften, doch es war zu spät. Mein Körper fiel. Ich hörte ein lautes Platschen, dann war Totenstille. Das Letzte was ich sah, war ein weißes Kleid, das auf dem Wasser schwomm, dann war alles schwarz.
Meine Augenlider waren schwer. Als hingen Tonnen schwere Gewichte daran, doch ich konnte sie öffnen. Ich lag in einem Bett, einer Liege, wie ich sie aus Krankenhäuser kannte. Ich befand mich in einem kleinen Raum. Nur das Bett, gegenüber davon ein Bild von einem See und rechts von mir an der Wand ein Fenster aus dem ich blicken konnte, auf der linken Seite eine Tür. Ich versuchte auf zu stehen. Meine Beine waren wacklig und es fiel mir schwer zu gehen. Aber das brauchte ich gar nicht. Ich schwebte sogar ein bisschen über dem Boden. Ich ging zu dem Fenster. Ich trug ein weißes Kleid, dasselbe wie Luna getragen hatte. Ich konnte mich an alles erinnern. Jedes einzelne Detail. Als ich nach draußen blickte, konnte ich nur die Krone eines Baumes sehen, der womöglich vor dem Fenster stand. Ich bewegte mich zu der Tür hin. Langsam öffnete ich sie und trat heraus. Ich befand mich auf einem beleuchteten Korridor. Überall liefen Frauen mit weißen Kitteln durch die Gegend. Es sah genauso aus wie in einem Kranken Haus und doch hatte es eine ganz andere Art. Eine der Frauen schob ein Liege vor sich hin und eilte damit den langen Flur entlang. Dann kam mir eine andere entgegen. Sie blickte mir direkt in die Augen und schweifte nicht ab. Sie drängte mich fast in den Raum zurück und schaltete dort das Licht ein. Dann bat sie mich doch zu sitzen. Sie hielt zwei Dinge in ihren Händen. In der rechten ein paar Papiere. Es sah so aus wie ein Dokument, das sie mir auf den Schoß legte. Das zweite fand ich um einiges interessanter. Es war eine Art Päckchen, das in ein weißes Tuch gehüllt war. Die Frau legte es auf die Ablage neben meiner Liege. Dann goss sie mir etwas Wasser aus einer Flasche in ein Glas, das sie daneben stellte. "Das Päckchen gehörte ihrem Schutzengel. Es soll ihnen gehören. Das Dokument? Information über sie selbst. Sie selbst als Engel", erklärte sie. Dann verließ sie mit schnellen Schritten den Raum.
Ich überflog das Dokument.
- Fite Silvermire, Schutzengelneuling => Ausgewählter: Mara Leeride
Schutzengel Absolvent ab Sonntag, dem 19. Juli. 2015 bis * -
Ich legte das Dokument auf die Matratze neben mich und griff nach dem Päckchen. Ich war jetzt also ein Schutzengel. Und Mara das Mädchen, dessen Engel ich war. Ich blickte auf das Tuch in meinen Händen. Dann entfaltete ich es. Darin lag ein kleinens Kästchen. Wie etwas, in dem man Ringe aufbewahrte. Das Tuch, fiel mir auf, schien ein Kleid zu sein. Lunas Kleid? Ich nahm das Kästchen in die Finger. Vorsichtig öffnete ich es. Darin lagen zwei Strasssteinchen. Beide olivgrün. Ich legte alles beiseite außer die Steinchen, welche ich zwischen die Finger nahm. Dann ging ich zum Fenster. Da es draußen dunkel war, spiegelte ich mich in der Scheibe. Ich klebte mir die Steinchen auf den Wangenknochen. "Ich bin Fite", ließ ich die Worte von meinen Lippen fließen.

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