1

43 6 0
                                    

Ich ließ mir die Haare von meiner Mutter zu einem strengen Knoten binden. Es zog und tat weh, doch ich wollte ihr wenigstens ein Mal den Traum von einem Mädchen erfüllen, das nicht aussah wie das, was sie war.

Eine Löwin. Meine Mutter hatte sich einen Zwilling oder einen Wassermann gewünscht und wäre sogar mit einer Waage zufrieden gewesen. Aber ein Löwe? Bekannt für ihre mindere Intelligenz und ihre aufbrausende Art, mit nichts als übermenschlicher Stärke begabt? Das war nichts für eine Frau wie sie.

Und dann hatte ich auch noch rote Locken, die sich so wild in alle Richtungen von meinem Kopf entfernten, dass ich morgens Ewigkeiten brauchte, um sie halbwegs zu bändigen. Meine Mähne, hatte meine Mutter meine Haare mit einem aufgesetzten Lächeln getauft und mir dann über die sommersprossigen Wangen gestrichen.

Meine eisblauen Augen starrten mich hasserfüllt im Spiegel an und mein ohnehin schon kleiner Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

"Mom." Ich legte einen Hauch Verzweiflung in meine Stimme. "Bitte."

"Kommt nicht in Frage. Du wirst auf diese Schule gehen." Die kalten Augen hatte ich von ihr geerbt.

"Aber ich kenne da niemanden. Und ich will nicht. Es ist scheiße da!"

Heute war mein erster Tag an der High School. Aber es war eine High School für Leute, die anders waren. Eigentlich gab es keinen Namen für uns. Wir waren eigentlich normal (wie auch immer man das definieren mag), bis auf irgendwelche Fähigkeiten, die davon abhingen, wie die Sterne an unserer Geburt standen.

Meine Mutter war eine Jungfrau und damit in allen Künsten begabt. Früher hatte es mal eine sehr begabte Gruppe Jungfrauen gegeben. Sie konnten singen wie Göttinnen und nannten sich Sirenen. Ihretwegen waren einst sehr viele Männer in den Tod gesprungen.

"Meine Zeit an der High School war die beste meines Lebens. Da habe ich deinen Vater kennengelernt und viele meiner heutigen Freunde." Sie lächelte. "Deine Zeit da wird noch besser." Damit strich sie mir sanft über den Kopf. Viele kleine Härchen standen mir vom Kopf ab. Sie weigerten sich, gezähmt zu werden.

"Du warst ja auch kein Löwe, der von niemandem ernst genommen wird. Du warst eine Jungfrau, die abends am Lagerfeuer Gitarre gespielt und dazu gesungen hat und - zack! - alle lieben dich." Ich schnaubte. Das war ja kein Vergleich.

"Möchtest du deinen Kaffee noch austrinken?", fragte meine Mutter kühl. Ich hatte sie wieder mal auf irgendeine Weise verletzt.

"Nein. Ist eh kalt."

Einen Vorteil hatte diese High School. Sie war ein Internat. Und ich würde meine Eltern bis Weihnachten nicht sehen.

♌️

Natürlich waren wir zu spät.

Ich rannte durch einen langen Gang, an dem Klassenräume abzweigten. Raum 71. Ich rannte weiter.

Meine Mutter hatte mich vor der Schule abgesetzt und mir einen leichten Kuss auf die Stirn gehaucht. "Mach nichts Dummes."

Ich hatte geseufzt und genickt und sie war davongefahren. Begleiteten Eltern einen nicht normalerweise zum Klassenraum, wenn man auf eine neue Schule kam? Meine nicht. Mein Dad hatte sowieso kaum Zeit, der hochbegabte Wassermann musste seine Firma leiten, sein zweites Baby. Und meine Mutter war eine Künstlerin, keine Mutter, zumindest nicht hauptberuflich.

71. Da waren wir also. Die Zahl war in silbernen Lettern ins Holz geprägt und sprang mir ins Gesicht. Ich war allein und da drin waren nur Menschen, die ich nicht kannte.

EclipticWo Geschichten leben. Entdecke jetzt