Kapitel 4
Es ist kalt und der Boden auf dem ich sitze ist feucht. Der Geruch von erbrochenem steigt mir in die Nase. Ich blinzele und versuche vorsichtig die Augen zu öffnen. „Hey, hey. Wie geht's dir? Alles in Ordnung?" Ich drehe den Kopf leicht nach rechts und dann nach links. „Wo-wo bin ich?", frage ich schließlich. Langsam taste ich mit meinen Händen den Boden ab, er fühlt sich weich und matschig an. Nachdem sich meine Augen an das Licht gewöhnt haben und ich nun alles etwas klarer sehe, erkenne ich Nate der vor mir auf dem Boden hockt und meinen Kopf stützt. Panisch reiße ich meine Augen auf und stoße mich von dem Baum ab, an dem ich scheinbar die ganze Nacht lang lehnte. „Welcher Tag ist heute?", frage ich. Nate sieht mich verwirrt an. „Samstag. Hör mal, du hast dir ganz schön den Kopf verletzt, ich bring dich ins K..." Ich höre ihm schon gar nicht mehr richtig zu und springe auf, noch bevor er seinen Satz beendet hat. „Ich-ich muss nachhause." Samstag? Samstag? Ich war die ganze Nacht über weg? Jasper wird sich furchtbare Sorgen gemacht haben und ich kann mich an den größten Teil des gestrigen Abends nicht einmal mehr erinnern. Auf halben Weg drehe ich mich wieder um und laufe zu Nate zurück, der mich mit großen Augen mustert. „Wie spät ist es?", frage ich. Er zögert einen Moment bevor er auf seine Uhr schaut. „12:30 Uhr." Ich presse die Lippen aufeinander und stoße hörbar den Atem aus. Auch der letzte Funken Hoffnung, dass Jasper vielleicht noch schläft und gar nicht bemerkt hat, dass ich weg gewesen bin, schwindet. Er steht immer um 8:00 Uhr morgens auf, holt Brötchen vom Bäcker und weckt mich dann, damit wir gemeinsam Frühstücken können. Ich lege mir die Handflächen auf die Stirn und presse die Augenlider aufeinander. „Ich stecke bis zu den Knien in der Scheiße.", sage ich. Ich Linse zu Nate herüber und sehe, dass er mich mitleidig ansieht. „Hör auf damit!" Ich reiße meine Augen auf und funkele ihn an. Das Mitleid verschwindet und er schaut nun eher erschrocken. „Womit? Was ist dein Problem?!", keift er zurück. „Was mein Problem ist? Du willst wissen was mein verdammtes Problem ist?" Einen Moment lang stehen wir einfach so da und starren einander an. Ich spüre wie meine Gesichtszüge weicher werden und meine Miene zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt. Ich wende mich von ihm ab und reibe mir über meine müden Augen. Kurz darauf spüre ich seine Hände, wie sie locker meine Oberarme umfassen. Ich möchte mich nicht zu ihm umdrehen, denn ich möchte nicht das er die Tränen in meinen Augen sieht. „Es tut mir leid.", flüstert er. „Möchtest du..." Er räuspert sich. „Möchtest du darüber reden?" Ich schüttele den Kopf. Ich habe darüber geredet, mehr als einmal. Aber egal wie oft und mit wie vielen verschiedenen Menschen ich noch darüber reden würde, ich werde es nie schaffen über dieses eine unbedeutende Detail in meinem Leben hinweg zu kommen.
Ich sitze in dem Wartezimmer und schaue mich in dem kahlen Raum um. Es hat sich nicht viel verändert seit ich das letzte mal hier war. Ich dachte wirklich es wäre das letzte mal. Und nun sitze ich schon wieder hier.
„Hope?" Die Arzthelferin, welche vorhin noch an der Rezeption hinter einem Computer gesessen hat, steckt nun ihren Kopf durch den kleinen Spalt. Ich werfe ihr einen mißmutigen Blick zu, woraufhin sie sich berichtigt. „Ähm... Ich meinte natürlich Amanda. Dr. Scheller hat nun Zeit für dich." Sie lächelt mir aufmunternd zu. Ich nicke und erhebe mich langsam von dem Stuhl. In kleinen Schritten schlurfe ich hinter ihr her den langen Flur entlang bis zu der Tür, an der ein Schild hängt mit der Aufschrift:
„Frau Dr. Sophia Scheller.
Kinder- und Jugendpsychotherapeutin"
„Amanda. Wie geht es dir heute?", fragt mich Dr. Scheller, nachdem ich mich in das weiche Leder des Sessels sinken ließ. Ich antworte nicht gleich, denn es ist für mich sehr ungewohnt nach so langer Zeit wieder hier zu sitzen. „Ähm...Gut." Dr. Scheller zieht eine Augenbraue hoch. „Okay.", sagt sie zögerlich während sie sich etwas auf einem Stück Papier notiert. „Und was hat dich heute zu mir geführt?" Ich schlucke und schaue verlegen auf meine Hände, die reglos in meinem Schoß ruhen. „Mein Onkel ist gestorben.", presse ich nach einer Weile hervor. „Er ist tot." Ich zucke die Schultern und spüre, wie sich die Tränen in meinen Augen sammeln. Dr. Scheller sagt nichts und wartet geduldig, bis ich weiter spreche. „Sie sagen es war Selbstmord. Sie sagen, die Schuldgefühle hätten ihn dort hin gebracht. Und Mom und Dad machen mich dafür verantwortlich. Aber ich weiß das es so nicht ist. Er war sich nie irgendeiner Schuld bewusst.", sage ich während die Tränen meine Wangen herunter laufen.
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Das Mädchen mit den schwarzen Augen
Teen FictionDas Leben hat es bisher nicht besonders gut mit Amanda Brown gemeint. Sie war schon früh auf sich allein gestellt und musste alleine lernen, was überleben heißt. In Brooklyn bei ihrem Bruder versucht sie weit weg von allem, was sie bisher kannte, ei...