Banges Warten

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Wie lange er dort so in sich zusammengesunken gesessen hatte, konnte er nicht sagen, er nahm auch kaum Notiz davon, wie Martin sich neben ihn setzte und ihm den Arm um die Schultern legte. Immer noch liefen ihm die Tränen und er hatte weiterhin den Kopf in den Händen vergraben und raufte sich hilflos die Haare. Hin und wieder wanderte sein Blick zum Rettungswagen, durch dessen milchige Scheiben er geschäftiges Treiben wahrnehmen konnte. Martin hatte Recht, er würde Flo nicht helfen können, er würde den Sanitätern höchstens ihre Arbeit erschweren. Dennoch machte es ihn fertig, so untätig hier am Straßenrand zu sitzen und Stoßgebete Richtung Himmel zu senden, in der Hoffnung, sie würden erhört werden. Stillschweigend saßen er und sein Kollege in der kalten Herbstnacht und Paul war mehr als dankbar für Martins Anwesenheit und die Ruhe die er ausstrahlte. „Leute!", hörte er jemanden nach ihnen rufen. Franco hatte den RTW verlassen und schaute mehr als unglücklich drein, als er sich in ihre Richtung bewegte. Auf halbem Weg kamen sie sich entgegen. „Wir mussten halten, Florians Puls ist abgesackt und er konnte nicht mehr von alleine atmen. Wir...mussten ihn wiederbeleben...aktuell wird er beatmet. Ab jetzt zählt jede Sekunde, wir sehen uns im Krankenhaus, ja?" Er machte auf dem Absatz kehrt und stieg wieder in den Krankenwagen. Pauls Beine trugen ihn wie von selbst in den Streifenwagen und so setzten auch die Polizeibeamten die unterbrochenen Fahrt in die Uniklinik fort.

In der dortigen Notaufnahme herrschte Hochbetrieb. Sobald Florian aus dem RTW geladen war, wurde er von einer Gruppe von Ärzten in Empfang genommen. Schnellen Schrittes schoben sie die Trage Richtung Schockraum, in dem weiteres in weiß gekleidetes Personal wartete. Hinter ihnen schloss die Tür mit einem Zischen und die Mediziner begannen mit ihren Untersuchungen. Einige Sekunden später erreichte auch Paul die Notaufnahme und verlangte lautstark nach Auskunft über Florians Aufenthaltsort. „Guter Mann..", wurde er von einer Krankenschwester angesprochen, „bitte schreien Sie hier nicht herum, wir sind immer noch ein Krankenhaus. Ich kann Ihre Aufregung verstehen, also, wenn Sie mir bitte folgen möchten." Er wurde von ihr in eine Art Durchgangsflur geführt, an dessen linker Seite einige unbequem aussehende Plastiksitze angebracht waren. „Wenn Sie hier warten würden, die Ärzte führen gerade die Erstuntersuchungen durch, das kann einige Zeit in Anspruch nehmen." Sie lächelte noch einmal nett und verschwand dann wieder zum Eingang. Noch immer hatte er sich nicht beruhigen können, er war immer noch angespannt und zutiefst beunruhigt über das, was Franco ihnen über den ungeplanten Zwischenstopp erzählt hatte. Flo war praktisch tot gewesen, sein Körper hatte nicht mehr mitgespielt. Er war zwar kein Arzt, aber er konnte sich nur zu gut ausmalen, was dies für den weiteren Verlauf zu bedeuten hatte. Ihm kam wieder das Bild in den Sinn, wie er seinen Kollegen auf der Straße hatte liegen sehen. Blutüberströmt und bewusstlos. Es gab nur noch schwarz oder weiß. Entweder Flo überlebte das hier oder er würde sterben. Bei diesem Gedanken musste Paul schlucken. So weit hätte es niemals kommen sollen. Wenn er einfach besser aufgepasst hätte. Wenn er sich kurz umgedreht hätte. Wenn er... „Scheiße man, scheiße, scheiße, scheiße!", brüllte er und trat in seiner Wut auf sich selbst gegen die Reihe von Plastikstühlen, die nachgaben, und in mehrere Einzelteile zersprangen.

In diesem Moment öffnete sich die Tür des Flures. Doch statt eines Arztes, erkannte Paul Martin und Tom, die auf ihn zukamen. „Hast du schon etwas Neues erfahren können?", wollte Tom wissen. Er schüttelte den Kopf. „Die Schwester sagt, sie machen gerade Untersuchungen und das dauert." Seine Kollegen nickten bestätigend und alle drei fielen wieder in altbekanntes Schweigen. Niemand wusste, welche Worte in dieser Situation die richtigen sein könnten, jedes Geräusch schien fehl am Platz. Die Minuten vergingen, aus Minuten wurden Stunden und bei Tom nahm die Unruhe Überhand. „Ich geh jetzt Kaffee holen, noch jemand einen?", fragte er in die Runde. Martin nickte bejahend, während Paul kaum merklich mit dem Kopf schüttelte. Sein Blick glitt, wie so oft in den letzten Stunden, auf seine Armbanduhr. Mittlerweile war es 03:34 Uhr. Um 23:47 Uhr hatte die Krankenschwester ihn in diesen kargen, weißen Flur geführt. Das waren vier Stunden ohne jegliche Information zum Gesundheitszustand ihres Kollegen und Freundes. Paul hatte das Gefühl schier wahnsinnig zu werden. Unbeirrt lief er seit einiger Zeit den Flur hoch und runter, die genervten Blicke von Martin ignorierte er dabei gekonnt. Als er auf seiner Runde wieder bei ihm ankam, wurde er von diesem unsanft am Arm auf den Stuhl neben ihm gezogen. „Da bleibst du jetzt sitzen!", raunzte er ihn an, „das macht mich verrückt!" „Lass mich!", antwortete Paul gereizt, „Kann ja nicht jeder so seelenruhig herumsitzen wie du, während Flo gerade um sein Leben kämpft." Noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, wurde ihm bewusst, was genau er da gerade gesagt hatte. Schuldbewusst senkte Paul den Kopf. Er sollte aufhören, seine Gefühle an den Kollegen auszulassen. Alle waren mindestens genauso von dem Vorfall mitgenommen wie er und jeder ging nun mal anders damit um. „Tut mir Leid, das war so nicht gemeint. Ehrlich.", sprach er Richtung Martin. Eine Zeit lang erhielt er keine Antwort, erst Minuten später erhob Martin vorsichtig seine Stimme. „Paul. Hör zu. Es ist jetzt vielleicht absolut der falsche Zeitpunkt um davon anzufangen, aber ich denke du solltest darüber sprechen, was heute Nacht da passiert ist." Dieser Vorschlag traf ihn unerwartet.

Er wusste, dass Martin im Grunde Recht hatte, denn so konnte er sich das was ihm zu schaffen machte, von der Seele reden, andererseits hatte er nicht vor, die Geschichte bei seiner Vernehmung wieder und wieder zu erzählen. Sein Zögern schien nicht unbemerkt zu bleiben. „Wir können das als Zeugenaussage aufnehmen, dann müssen wir es später nur noch verschriftlichen." Aufmunternd blickte der Kollege ihn an. Paul schloss die Augen und fing an zu erzählen. Wie der Funkspruch einging, wie sie Mühe hatten die Schläger zu trennen. Als er zu der Stelle kam, an der er feststellte, dass Flo am Boden lag und auf ihn eingeprügelt wurde, hielt er kurz inne und musste tief durchatmen. Diese Bilder hatten sich tief in sein Gedächtnis gebrannt und würden ihn noch eine Zeit lang verfolgen. In allen Einzelheiten erzählte er weiter, wie der erste Schläger fliehen konnte, was er getan hatte, um Flo zu helfen alles was er sonst noch als wichtig erachtete. Nach dem letzten Satz fiel eine ungeheure Anspannung von ihm ab. Dennoch ließ ihn ein bestimmter Gedanke nicht los: „Wenn er stirbt, dann ist das meine Schuld.", flüsterte er rau. Bevor ihm Martin diese Behauptung ausreden konnte, öffnete sich ein weiteres Mal die Flurtür, durch die Tom trat. Dieses Mal hatte er jedoch einen Arzt mitgebracht.
Er stellte sich neben seine beiden Kollegen, die sich erhoben hatten und gemeinsam warteten sie, bis der Mann etwas sagte. „Die Herren, mein Name ist Dr. Kraft, ich habe soeben ihren Kollegen Herrn Winter operiert." Er machte eine kurze Pause. Angespannt blickten die drei ihm entgegen. „Er wurde ziemlich brutal zugerichtet, deswegen hat die Operation auch etwas länger gedauert. Gehe ich Recht in der Annahme, dass keiner von ihnen verwandt mit ihm ist?" - „Das ist richtig Herr Doktor, aber wir sind alle persönlich betroffen und er hier", dabei zeigte Tom auf Paul, „kommt quasi fast um vor Sorge." Unsicher lächelte Paul den Arzt an. Tom hatte Recht. Und wie. Prüfend schaute der Mediziner Paul an und gab sich dann doch einen Ruck. „Also schön. Aber es ist nicht sehr erfreulich. Herr Winter hat mehrere Gesichtsfrakturen, unter Anderem ein gebrochenes Jochbein links, einen Bruch der linken Augenhöhle und das Nasenbein ist ebenfalls gebrochen. Was uns jedoch die meisten Sorgen bereitet, ist der Tritt gegen den Kopf der ihm zugefügt wurde. Wir haben ein Schädel-Hirn-Trauma zweiten Grades, sprich eine Gehirnprellung, diagnostiziert. Aufgrund dessen war er auch längere Zeit nicht bei Bewusstsein. Um einen bestmöglichen Krankheitsverlauf zu garantieren, haben wir ihn in ein künstliches Koma versetzen müssen. Tut mir Leid, dass ich keine besseren Nachrichten für sie habe. Es wird demnächst eine Schwester kommen und ihnen sagen, wo sie ihn besuchen können." Er nickte freundlich und verabschiedete sich dann wieder.

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Guten Nachmittag ihr Zuckerschnuten,
Wir hoffen, dass euch unser zweites Kapitel gefallen hat!
Wir möchten darauf hinweisen, dass wir unser Medizinstudium leider Gottes vor der Anmeldung an der Uni abgebrochen haben, von daher garantieren wir nicht für die Richtigkeit der medizinischen Handlungen in unserer Geschichte.
Liebste Grüße und bis zum nächsten Kapitel,
Eure Autoren :)

Afraid of the MidnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt