„Möchtest du eine Gutenachtgeschichte hören?"
„Oma, für sowas bin ich zu alt."
„Du bist nie zu alt für eine gute Geschichte."
Widerwillig krabbelt das Mädchen in ihr Bett und wartet, da sie weiß, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen wird. Ein bitterkalter Wind weht vor der Tür und peitscht den fallenden Schnee zu teuflischen Wirbeln auf.
„Was für eine Geschichte? Vielleicht eine über die Eishexe?", fragt Großmutter.
„Nein, nicht die."
„Was hältst du von einer Geschichte über Braum?" Das Schweigen genügt ihr als Antwort. Die alte Frau lächelt. „Oh, es gibt so viele Geschichten über ihn. Meine Großmutter erzählte mir immer von der Zeit, als Braum unser Dorf vor dem großen Drachen beschützt hat! Oder einmal - vor sehr langer Zeit - rannte er über einen Fluss aus Lava! Oder -" Sie hält inne; legt einen Finger auf ihre Lippen. „Habe ich dir erzählt, wie Braum seinen Schild bekommen hat?"
Das Mädchen schüttelt den Kopf. Das Feuer im Kamin knistert und hält den Wind fern.
„Also gut. In den Bergen über unserem Dorf lebte ein Mann namens Braum -"
„Das weiß ich!"
„Er blieb die meiste Zeit auf seinem Bauernhof und kümmerte sich um seine Schafe und Ziegen, doch er war der freundlichste Mann, den man je getroffen hat. Er hatte immer ein Lächeln im Gesicht und ein Lachen auf den Lippen.
Eines Tages nun passierte etwas Schreckliches: Ein kleiner Trolljunge, etwa in deinem Alter, kletterte auf den Berg und stieß auf ein Gewölbe, das in den Berg gehauen war. Dessen Eingang wurde von einer gewaltigen Steintür bewacht, in deren Mitte ein Splitter aus Wahrem Eis saß. Als er die Tür öffnete, wollte er seinen Augen nicht trauen: Das Gewölbe war voller Gold, Juwelen - jeder Schatz, den du dir nur vorstellen kannst!
Was er aber nicht wusste, war, dass diese Schatzkammer eine Falle war. Die Eishexe hatte sie verflucht - und als der Trolljunge sie betrat, fiel die magische Tür mit einem lauten Donnern hinter ihm zu und er war eingeschlossen! Er konnte tun, was er wollte, er konnte nicht hinaus.
Ein Hirte, der zufällig vorbeikam, hörte seine Schreie. Alle eilten zu Hilfe, doch selbst die stärksten Krieger konnten die Tür nicht öffnen. Die Eltern des Jungen waren ganz aufgelöst. Die Klagerufe seiner Mutter hallten durch die Berge. Es schien hoffnungslos.
Und dann hörten sie, zur Überraschung aller, aus der Ferne ein Lachen."
„Das war Braum, stimmt's?"
„Du bist clever! Braum hatte ihre Rufe gehört und kam mit großen Schritten den Berg herunter. Die Dorfbewohner erzählten ihm von dem Trolljungen und dem Fluch. Braum lächelte, nickte, drehte sich zu der Schatzkammer um und schaute die Tür an. Er stemmte sich gegen sie. Zog an ihr. Haute dagegen, trat dagegen, versuchte, sie aus den Angeln zu reißen. Doch die Tür rührte sich nicht."
„Aber er ist doch der stärkste Mann, den die Welt je gesehen hat!"
„Es war verwirrend", stimmte ihre Großmutter zu. „Vier Tage und Nächte lang saß Braum auf einem Felsbrocken und grübelte über eine Lösung nach. Es stand ja das Leben eines Kindes auf dem Spiel.
Als die Sonne dann am fünften Tag aufging, weiteten sich seine Augen und ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht. ‚Wenn ich nicht durch die Tür gehen kann', sagte er, ‚dann muss ich eben durch -'"
Das Mädchen denkt nach. Ihre Augen weiten sich. „- den Berg!"
„Durch den Berg. Braum machte sich auf zum Gipfel und begann, sich geradewegs durchzuschlagen, eine Faust nach der anderen hämmerte er sich durch den Fels, Steine flogen hinter ihm weg, bis er tief im Berg verschwunden war.
Während die Dorfbewohner den Atem anhielten, zerbröckelte der Stein um die Tür herum - und als der Staub sich gelegt hatte, sahen sie Braum mitten in den Reichtümern stehen, mit dem schwachen, aber glücklichen Trolljungen auf dem Arm."
„Ich wusste, dass er es schaffen kann!"
„Doch bevor sie gemeinsam feiern konnten, begann alles zu beben und zu erzittern: Braums Tunnel hatte den Berggipfel geschwächt und nun brach er in sich zusammen! Braum überlegte schnell, schnappte sich die verzauberte Tür und hielt sie wie einen Schild über sich. Dieser schützte die Menschen, als der Berg um sie herum zusammenbrach. Als das Beben vorüber war, war Braum erstaunt: Die Tür hatte nicht einen einzigen Kratzer abbekommen! Braum wusste, dass sie etwas ganz Besonderes war.
Und von dem Moment an hatte Braum diesen magischen Schild immer bei sich."
Das Mädchen sitzt ganz gerade und versucht, ihre Aufregung zu verbergen. Ihre Großmutter wartet. Sie zuckt mit den Schultern und steht auf, um zu gehen.
„Oma", hält das Mädchen sie zurück, „kannst du mir noch eine erzählen?"
„Morgen." Ihre Großmutter lächelt, küsst ihre Stirn und bläst die Kerze aus. „Du musst jetzt schlafen und es gibt noch viele Geschichten zu erzählen."