Prolog

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Raphael

Wäre heute nicht der fünfundzwanzigste Geburtstag meines alten Schulfreundes Marcel, wäre ich gar nicht vor die Tür gegangen. Hätten seine Pfeifen von Freunden seine Party nicht in einem Club außerhalb unseres Viertels geplant, wäre ich gar nicht in der Nähe gewesen. Und hätte mich meine Schwester Susanne nicht angefleht, überhaupt dorthinzugehen, wäre mir das alles nicht passiert.
Doch jetzt stehe ich hier, im heruntergekommenen Bahnhofsviertel Münchens, und höre die gellenden Hilfeschreie einer Frau. Mein Herz beginnt zu rasen, mein Hirn zu arbeiten. Woher kommen die Schreie? Dank der hohen Mauern dieser Gasse hallen die Schreie wider, sodass sie von überallher kommen könnten.
»Nein! Bitte Tobi, hör auf!« Der flehende Schluchzer dieser offensichtlich wehrlosen Frau geht mir durch Mark und Bein.
»Klappe! Du machst mich schon den ganzen Abend scharf mit deinem Arschgewackle. Tu nicht so, als wolltest du nicht von mir gefickt werden, kleine Jungfrau!«, knurrt eine Männerstimme gereizt. Er bedrohte sie also. Verdammte Scheiße!
»Hör auf, bitte!«, bettelt sie wieder. »Das bist nicht du, Tobi! Du behandelst alle gut. Du bist ein lieber Mensch.« Was versucht sie da, zum Teufel? Einen Appell an sein Gewissen?
»Genau das bin ich, Prinzessin. Weißt du, warum ich dir die ganze Zeit über deinen knackigen Arsch gepudert habe? Damit ich der verdammte Erste in dir sein kann!« Ein lautes Ratsch folgt seinen derben Worten. Sie quietscht panisch. So weit kann es also nicht entfernt sein. Das Zerreißen von Kleidung wird man wohl kaum so laut über eine weitere Entfernung hören können. Na gut. Das ist immerhin ein Anfang. Trotzdem stehe ich immer noch vor der alles entscheidenden Frage. Links oder rechts? Links geht es, soweit ich mich an Marcels Beschreibung erinnere, zum Club. Also wohl eher rechts. Niemand ist so blöd und vergewaltigt eine Frau vor einem Club, in dem sich Unmengen von Menschen tummeln.
Ich folge entschlossen meinem Instinkt und nehme die rechte Abzweigung. Die Geräusche werden immer lauter. Ich habe mich also nicht getäuscht. Im Laufschritt haste ich den nicht enden wollenden Weg entlang, als plötzlich ein zufriedenes »Oh jaaa, Süße!« gefolgt von einem schmerzerfüllten Schrei meine Trommelfelle zu zerreißen droht. So wie es aussieht, komme ich wohl zu spät. Er ist längst da, wo er sein will. Trotzdem renne ich weiter. Auf keinen Fall kann ich diesen Wichser sein Werk vollenden lassen. »Entspann dich, Kleine, und genieß es. Du wirst mir dankbar sein, glaub mir«, raunt dieser Widerling und stöhnt lustvoll auf.
Mir dreht sich der Magen um. Und als ich die beiden endlich gefunden habe, muss ich saure, bittere Galle schlucken. Jetzt zu kotzen, wäre ein wirklich unpassender Zeitpunkt. Auch wenn dieser Anblick alles in mir danach schreien lässt. Ein Mann, bedrohlich muskelbepackt, kauert über einer zierlichen Frau. Er rammt sein Becken auf die brutalste Weise gegen ihres. Mit jedem Stoß schluchzt sie immer verzweifelter auf. Aber sie scheint aufgegeben zu haben. Ihre Arme liegen schlaff neben ihrem Körper. Gerade geht sie nur noch kaputt. Daran kann niemand mehr was ändern. Aber ich kann den Schaden begrenzen. Ich sehe rot. Kopflos stürze ich mich auf den Wichser. Weil er nicht damit gerechnet hat und Wut ungeahnte Kräfte verleiht, gelingt es mir, ihn von ihr runterzuziehen. Mit einem dumpfen Aufprall landet er zu meinen Füßen. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt für die junge Frau, sich aus dem Staub zu machen. Aber sie tut es nicht. Vielmehr bleibt sie reglos da liegen, wo sie ist, das Kleid in zwei Hälften gerissen, den Slip um ihre Knöchel geschlungen. Würde sie nicht noch immer zittern und schluchzen, könnte man meinen, der Pisser hätte sie umgebracht.
Plötzlich werde ich von den Füßen gerissen. Ein tonnenschwerer Körper rollt sich auf mich. Eine Hand umklammert eisern meine Kehle. Sie schnürt mir die Luft ab. »Wer bist du, verdammtes Arschloch, dass du dich hier einmischst?«, zischt der Kerl. Da ich nicht sprechen kann, weil er mir seine Finger immer fester in die Kehle drückt, fällt mir nur eine Möglichkeit ein. Ich ramme ihm mein Bein mit voller Wucht in seinen immer noch steifen Schwanz und spucke ihm ins Gesicht. Er brüllt auf und lässt von mir ab. Fluchend rollt er sich wie ein Käfer auf dem Boden hin und her und hält sich die Weichteile. Ich ringe angestrengt nach Luft. Der erste Atemzug lässt meine Lunge förmlich explodieren. Weiße Sterne tanzen vor meinen Augen. Ich muss sie zusammenkneifen, um nicht zu kollabieren.
Blindlings krieche ich auf die Frau zu, um ihr zu verklickern, dass sie abhauen soll. Aber ich erreiche sie nicht. Der Kerl scheint ein zäher Bursche zu sein. Denn er hat sich bemerkenswert schnell wieder gefangen. Er reißt mich herum und beginnt sofort damit, wahllos auf mich einzuprügeln. Eins. Zwei. Dreimal fliegen seine Fäuste auf meine Wange. Ich höre Haut reißen. Meine Haut. Höre Knochen brechen. Meine Nase, nehme ich an. Wie betäubt lasse ich es geschehen.
»Tja, jetzt bist du machtlos, du Bastard! Wolltest den großen Retter spielen, mhmm? In der Hoffnung, die Kleine für dich zu haben. Daraus wird wohl nichts. Denn wenn ich mit dir fertig bin, gebe ich der Kleinen das, was sie bitter nötig hat!« Rasende Wut lodert in seinen Augen. Hämisch entblößt er eine Reihe trügerisch weißer Zähne. Ein Haifischgrinsen. »Vielleicht lasse ich dich sogar bei Sinnen, damit du zusehen kannst, wie so was geht, du Schlappschwanz!«
Seine provokanten Worte durchdringen meine Taubheit. Entfachen meinen eigenen Zorn. Das erste Mal schießt meine Faust nach oben. Ich treffe ihn am Kiefer. Sein Kopf kippt leicht zur Seite. Der Kerl muss eine beachtliche Nackenmuskulatur besitzen. Denn schwach bin ich bei Weitem nicht. Dafür habe ich mich früher viel zu oft und viel zu erfolgreich geprügelt. Nochmals schwinge ich die Fäuste. Diesmal hat er aber damit gerechnet und weicht mir gekonnt aus, sodass der Schlag ins Leere geht. Er lacht mich aus und setzt sein Faustspiel fort. Jeder Hieb ist ein verdammter Treffer. Ich merke mit jedem Aufprall seiner Knöchel auf meiner Wange, wie die Energie aus meinem Körper weicht. Plötzlich sind da zwei Männer über mir. Und zwei Monde hinter ihnen. Mein Blick verschwimmt. Lange werde ich nicht mehr durchhalten. Wenn sich die Frau nicht bald vom Acker macht, kann ich nichts mehr für sie tun.
»Ach du Scheiße!«, durchdringt eine tiefe, eindeutig männliche Stimme das Rauschen in meinen Ohren. »Karla, ruf die Polizei und einen Krankenwagen!« Von wem auch immer dieser Befehl kommt: Ich bin ihm unglaublich dankbar. Dankbar, weil die junge Frau endlich in Sicherheit ist. Dankbar, weil das Fäusteregnen endlich ein Ende hat. Vor allem bin ich aber dankbar, dass ich jetzt in Ruhe abdriften kann. Das Gewicht auf meinem Körper verschwindet. Die Stimme und anscheinend eine andere Person haben den Wichser von mir runtergezogen. Ich atme auf. Ein stechender Schmerz durchzuckt meine Brust. Sieht wohl so aus, als wäre nicht nur mein Gesicht demoliert. Meine Rippen scheinen auch gebrochen zu sein. Gar nicht so schlecht eigentlich. Vielleicht danke ich ja ehrenhaft ab und mich erwartet, statt der vermuteten Hölle, doch noch das Paradies. Vielleicht sollte ich vorher allerdings noch mal checken, ob die Frau schwerverletzt ist. Erst dann kann ich in Würde gehen. Keuchend schleppe ich mich auf allen Vieren vorwärts. Die Frau atmet schwach und abgehackt. Ansonsten scheint sie größtenteils unversehrt zu sein. Wenigstens etwas.
»Hey, es ist vorbei. Sie sind in Sicherheit«, flüstere ich und streiche ihr eine schweißnasse Strähne ihres kohlrabenschwarzen Haares aus der Stirn. Die Frau reagiert nicht. Sie starrt einfach nur geradeaus. Der Schockzustand hat sie ergriffen. Ich unterdrücke einen Schmerzensschrei, als ich mich aufrichte, um sie anschauen zu können. Der metallene Geschmack von Blut mischt sich in meinen Speichel. Angestrengt schlucke ich die Mixtur runter. Dann ziehe ich meine Jacke aus und lege sie ihr über den Oberkörper, damit sie nicht mehr so nackt ist. Sie zittert am ganzen Körper. Ihre schön geschwungenen Lippen sind blau. Ihre weit aufgerissenen, leblosen Augen starren zu mir auf. Die Iriden sind außergewöhnlich schön. Flussgrün würde ich sie beschreiben. Ich drohe, in ihnen zu versinken. Und vielleicht tue ich das ja tatsächlich. Flüssigkeit, warm wie Sommerregen, rinnt mir über die Wangen. Alles dreht sich. Ich sehe nur noch diesen unglaublich flussgrünen Strudel. Und dann wird alles schwarz.

Munich Lovers - Ich gehör zu DirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt