Das dritte Auge

49 2 3
                                    

Diese Geschichte erschien 2014 in der Anthologie "Weltentor" im Noel Verlag.

Es war eine stürmische Nacht, der Regen peitsche gegen die Fenster, Blitze schienen den Himmel zu zerreißen. Doch genauso gut hätte es der schönste aller schönen Sonnentage sein können, Marius bekam schon seit Stunden nichts mehr mit, das sich außerhalb seiner Bibliothek abspielte, so versunken war er in seine Lektüre. Er war kurz davor, das spürte er. Irgendwo in diesem Buch musste die Lösung sein. Buch für Buch hatte er wieder und wieder von Anfang bis Ende durchgelesen ohne den entscheidenden Hinweis zu finden, aber dieses eine Buch würde den Schlüssel enthalten. Erst heute Morgen hatte Marius es bei einem Trödler am Markt entdeckt und seither hatte er Seite um Seite verschlungen; bereits auf dem Heimweg hatte er nur noch Augen für das Buch und nicht mehr für seinen Weg gehabt, was ihm einige verärgerte Rufe und einen Zusammenstoß mit einer Ziege eingebracht hatte. Jetzt war er fast am Ende des Buches angekommen und immer mehr und mehr offenbarte sich ihm, das er zuvor einfach nicht begriffen hatte. Doppelt und dreifach gelesene Passagen anderer Werke erhielten nun endlich eine Bedeutung. Bilder, die Marius bisher ignoriert hatte, gewannen plötzlich an Wichtigkeit. Er würde alles noch einmal lesen müssen, aber das machte ihm nichts aus. Seit Jahren war er dem Geheimnis nicht mehr um einen so bedeutenden Schritt näher gekommen und plötzlich befand sich alles in greifbarer Nähe. Bald würde er das Ritual entschlüsselt und die Zutaten herausgefunden haben. Dann, endlich, konnten seine Brüder und er das Ziel von Generationen erreichen – das Ritual zur Öffnung des dritten Auges.

„Bist du sicher?" fragte Magister Konstantin aufgeregt. Er war der höchste Gelehrte ihres Zirkels und Marius hatte sich die Ehre, persönlich mit ihm sprechen zu dürfen, hart erarbeiten müssen. Natürlich würde auch er es sein, der den wichtigsten Teil des Rituals durchführen und schließlich die Gabe erhalten würde, mit dem dritten Auge in die Welt der Geister zu sehen. Marius war nach dem Entschlüsseln der letzten Passage augenblicklich zu dem Magister gelaufen, um ihm Bericht zu erstatten. Dieser war gerade beim Frühstück und über die Störung leicht verärgert gewesen, doch als er Marius gesehen hatte, wie dieser außer Atem, mit blutunterlaufenen Augen und ungekämmten Haaren vor ihm stand, da hatte er gewusst, dass das Frühstück würde warten können. Konnte es tatsächlich wahr sein? Konnte nach all den Generationen, die danach gesucht hatten, ausgerechnet er, Konstantin, derjenige sein, der die Gabe des dritten Auges empfangen würde? Marius schien nicht zu scherzen, das hieß aber nicht, dass er sich nicht irren konnte. „Ja, ich bin sicher", meinte dieser. „Ich werde gleich morgen Früh mit der Beschaffung der Zutaten beginnen." „Es ist morgen Früh", erwiderte Konstantin belustigt. Marius blickte sich um und schien tatsächlich erst jetzt zu bemerken, dass die Nacht vorbeigezogen und bereits ein neuer Tag angebrochen war. „Na gut, dann fange ich sofort an."

Sechzehn Tage dauerte es, alle Zutaten für das Ritual zusammenzutragen. Marius konnte nicht glauben, wie einfach es war. Keine getrockneten Drachenaugen brauchte man für die Durchführung, keine Basiliskenschuppen, kein Feenhaar. Nein, es waren ganz gewöhnliche Zutaten, wie Baldrian oder Lavendel, Birkenrinde und Mäusefell. Marius hatte sich jahrelang die unmöglichsten Dinge vorgestellt, die man für einen so mächtigen Zauber benötigen würde, dabei war die ausgefallenste Zutat das noch schlagende Herz einer Königskobra. Gebannt fieberte Marius dem Tag der Durchführung entgegen. Es würde eine Vollmondnacht sein, die einzige Bedingung, die für die Durchführung vorgegeben war. Und das Ritual musste unter freiem Himmel stattfinden, „unter dem Blick des Mondes", wie es im Text geheißen hatte. Doch das machte das Ganze nur noch einfacher, denn der große Steinkreis, in dem der Zirkel das Ritual durchzuführen gedachte, lag natürlich ohnehin auf einer mondbeschienenen Lichtung, viele andere druidische Rituale gelangen unter eben diesen Voraussetzungen am besten. Alles schien tatsächlich fast zu einfach. Die größte Hürde war ganz offensichtlich nicht das Ritual selbst, sondern die gut verschlüsselte Anleitung. Hätte Marius nicht durch Zufall das Buch auf dem Markt gefunden, wer weiß wie viele Generationen es noch gebraucht hätte, alles zu entschlüsseln. Natürlich, dachte Marius, wenn das Ritual selbst so einfach ist, dann muss das Geheimnis umso besser gehütet sein. Schließlich sollte nicht jeder Dahergelaufene sich einer so mächtigen Gabe bedienen können. Der Blick in die Geisterwelt, der Blick ins Reich der Toten, wenn man einigen ganz abenteuerlichen Geschichten glauben wollte, sogar der Blick in die Zukunft – das alles sollte mit dem dritten Auge möglich sein. Und er, Marius, war derjenige, der alles ermöglicht hatte. Wenn Konstantin erst einmal die Gabe beherrschte, wenn alles gutging, würde er großzügig belohnt werden. Und dabei dachte er nicht an Geld. Marius hatte mit Geld nie viel anzufangen gewusst. Nein, er erhoffte sich den Aufstieg in den nächsten Rang, den Rang des Magisters. Dann, endlich würde es ihm erlaubt sein, die heiligen Hallen zu betreten und ins Antlitz der Götter zu schauen, ein Privileg, das den höchsten Mitgliedern des Zirkels vorbehalten war.

Das dritte AugeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt