Teil 1

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Anna lebte mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in einer kleinen Stadt in der Nähe von Wales.

Nachdem ihr Vater vor zwei Jahren starb, sind sie dort in ein kleines, heruntergekommenes Haus etwas abseits der Ortschaft gezogen.

Anna war ein 15-jähriges, dürres Mädchen mit langen, schwarzen Haaren, die sie meist offen trug.
Ihre Kleidung war ebenfalls immer schwarz, wodurch ihre Haut auffallend hell wirkte.
Sie hatte dunkelbraune Augen und ihre Mundwinkel waren etwas nach unten gezogen.
Aber sonst war sie eigentlich recht unauffällig, schüchtern und generell sehr zurückhaltend.
Sie hasste es im Mittelpunkt zu stehen.
Aber das tat sie sowieso nie, denn in der Schule wurde sie entweder ignoriert oder nur geärgert.
Und zu Hause war sie immer alleine in ihrem Zimmer, saß zusammengekauert auf ihrem Bett, weinte oder starrte stumm aus dem Fenster, während ihre Mutter arbeitete und ihr Bruder meist bei Freunden war.

Doch sie war noch nicht immer so. Früher, als ihr Vater noch lebte, war ihr Leben perfekt.
Sie war fröhlich, nett, aufgeschlossen, hatte Spaß am Leben, hatte Freunde.
Doch als ihr Vater starb und sie umzogen,veränderte sich alles.
Seitdem sah sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr.
Seitdem verletzte sie sich selbst, in der Hoffnung, dass es ihr vielleicht dann besser ginge.
Seitdem aß sie so gut wie gar nichts mehr. Und wenn doch, dann steckte sie sich gleich den Finger in den Hals und kotzte somit alles wieder aus.
Seitdem ihr Vater tot war, hatte sie Depressionen, Angstattaken, plötzliche Nervenzusammenbrüche, Suizidgedanken.
Sie hatte keine Gefühle mehr.
Und wenn mal etwas Gefühl durch ihre harte, dicke Eisschicht durch kam, dann nur Hass, Angst oder Selbstmitleid.
Sie lachte nie.
War nie glücklich.
Hasste sich selbst für all dass, was passiert war.
Sie nahm alle Schuld auf sich und viel dadurch in ein tiefes schwarzes Loch.
Und sie hatte niemanden, der sie hätte da raus holen können.
Doch das machte ihr nichts.
Ihr war es egal wie es ihr selbst ging.
Sie rauchte, nahm Drogen, schluckte Tabletten, machte alles um sich selbst zu schaden.
Vielleicht hatte sie deshalb keine Freunde.
Aber wenn sie ehrlich war, war ihr das genauso egal wie alles andere auch.

In der Schule saß sie immer in der hintersten Reihe alleine in der Ecke an einem Tisch und wurde weder von den Lehrern noch von ihren Mitschülern groß beachtet.
Sie meldete sich nicht im Unterricht und hatte dennoch nie schlechte Noten im Zeugnis stehen.

Doch dann passierte etwas, was ihr Leben veränderte.

Eines Morgens saß plötzlich ein neuer Junge im Klassenzimmer.
Anna hätte ihn sicher nicht bemerkt, wenn er nicht von ihrem Lehrer ausgerechnet neben sie gesetzt worden wäre.
Er starrte sie erst an, setzte sich und holte seine Schulsachen aus der Tasche. Dann schaute er sie wieder an und lächelte schüchtern.
Anna erwiderte dieses lächeln nicht.
Wieso denn auch? Er wird doch nur einer von vielen sein, der sie früher oder später ebenfalls ignorieren oder ärgern wird. So wie es eben alle machen.

Der Schultag verlief eigentlich ganz normal. Außer das dieser Junge sie ständig verfolgte. Egal wo sie hin ging, er war hinter ihr.
Nach der Schule trottete sie lustlos nach Hause. Doch selbst auf diesem Weg folgte ihr der Junge. Bis sie mitten auf einer Waldlichtung stehen blieb, sich zu ihm umdrehte und ihn böse anschaute. Erschrocken blieb er wie angewurzelt stehen.
„Wieso rennst du mir die ganze Zeit hinterher?"
Er starrte sie wieder so an, wie er es in der Schule auch schon tat. Stotternd brachte er ein „Ich wohne auch hier" hervor.
Anna drehte sich um und rannte weg. Der Junge blieb stehen und schaute ihr verwirrt hinterher.

Als Anna zu Hause ankam, stand das Mittagessen bereits auf dem Tisch. Doch sie hatte keinen Hunger. Sie lies das Essen stehen und ging in ihr viel zu kleines Zimmer, das eher einer Kammer ähnelte.
Ihre Mutter war arbeiten und ihr Bruder war sowieso so gut wie nie zu Hause. Anna holte ihre Zigarettenpackung, eine Flasche Wodka und ein Messer.
Sie setzte sich auf ihr Bett, entnahm der Packung eine Zigarette zündete sich diese an und zog einige male kräftig daran. So langsam entspannte sie sich. Sie machte die Wodkaflasche auf und trank ein paar kräftige Schlücke davon, bevor sie sie auf ihrem Nachttisch abstellte.
Dann drückte sie ihre Kippe aus und krempelte die Ärmel ihres langen schwarzen Oberteils hoch.
Langsam fuhr sie mit ihren dünnen Fingern über ihre zerschnittenen, verkrusteten und vernarbten Arme.
Doch sie spürte nichts.
Einfach nichts.
Kein Gefühl.
Keine Wut.
Kein Schmerz.
Keine Trauer.
Eine Leere in ihrem Kopf.
Sie nahm das Messer, setzte an und schnitt.
Einmal... zweimal... dreimal... viermal.
Das Blut floss ihren Arm hinunter. Die Schnitte waren tief. Sehr tief.
Sie wusste das sie eigentlich ins Krankenhaus zum nähen müsste, doch das interessierte sie nicht.
Es war ihr wie immer egal.
Sie schnitt weiter, bis ihr kompletter Arm rot überzogen war. Das Blut tropfte auf den kalten Steinboden. Es bildete sich eine kleine Pfütze. Sie sah zu, wie das Blut langsam ihren Arm hinunterfloss.
Sie fühlte nichts.
Keinen Schmerz.
Sie bereute es nicht einmal.
Es tat sogar gut.
Es war erleichternd...
erlösend...
entfesselnd.
Sie konnte sich ein Leben ohne ritzten, trinken, rauchen, Drogen, Alkohol und Tabletten nicht mehr vorstellen.
Sie brauchte es.
Sonst würde sie nicht überleben können.
Wie in Zeitlupe nahm sie ein Taschentuch, wischte das Messer sauber und versuchte, das Blut von ihrem Arm zu tupfen. Doch das Taschentuch war schon komplett rot. Sie brauchte fünf weitere Tücher, bis ihr Arm einigermaßen sauber war und weitere zwei um die Pfütze auf dem Boden aufzuwischen.

Und so saß sie da...
auf ihrem Bett...
mit einem weiterhin blutenden Arm und einer inzwischen halbleeren Wodkaflasche.
Sie saß wie so oft einfach nur da und starrte mit leerem Blick aus ihren Zimmerfenster und schaute den Autos zu, wie sie mit viel zu hohem Tempo die holprige Straße vor ihrem Haus entlangbretterten.
Ihr fiel auf, das sie seit Tagen nicht mehr geweint hatte, was für sie recht untypisch war, denn normalerweise weinte sie täglich. Doch irgendwie konnte sie nicht. Es ging nicht mehr.
Sie hatte keine Gefühle mehr.
Ihr Herz war nur noch ein einziger Scherbenhaufen.
In ihr war alles entweder kaputt oder zu Eis erstarrt.

Das unscheinbare MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt