15. Die Schneekönigin

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Hans Christian Andersen

Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Menschen und Häuser sind, dass dort nicht Platz genug ist, damit alle Leute einen kleinen Garten besitzen können, und wo sich deshalb die meisten mit Blumen in Blumentöpfen begnügen müssen, waren zwei arme Kinder, die einen etwas größeren Garten als einen Blumentopf besaßen. Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie waren sich ebenso gut, als wenn sie es waren. Die Eltern wohnten einander gerade gegenüber in zwei Dachkammern. Da, wo das Dach des einen Nachbarhauses gegen das andere stieß und die Wasserrinne zwischen den Dachern entlang lief, war in jedem Hause ein kleines Fenster; man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, so konnte man von dem einen Fenster zu dem andern gelangen.

Beider Eltern hatten draußen einen großen hölzernen Kasten, und darin wuchsen Küchenkräuter, die sie gebrauchten, und ein kleiner Rosenstock. In jedem Kasten stand einer; die wuchsen herrlich. Nun fiel es den Eltern ein, die Kasten quer über die Rinne zu stellen, so dass sie fast von dem einen Fenster zum andern reichten und zwei Blumenwallen ganz ähnlich sahen. Erbsenranken hingen über die Kasten herab, und die Rosenstöcke schossen lange Zweige, die sich um die Fenster rankten und einander entgegen bogen; es war fast einer Ehrenpforte von Blättern und Blumen gleich. Da die Kasten sehr hoch waren und die Kinder

wussten, dass sie nicht hinaufkriechen durften, so erhielten sie oft die Erlaubnis, zueinander hinaus zu steigen und auf ihren kleinen Schemeln unter den Rosen zu sitzen. Da spielten sie dann prächtig.

Im Winter hatte dieses Vergnügen ein Ende. Die Fenster waren oft ganz zugefroren, aber dann wärmten sie Kupferschillinge auf dem Ofen und legten den warmen Schilling gegen die gefrorene Scheibe; dadurch entstand ein schönes Gucklock, so rund, so rund. Dahinter blitzte ein lieblich mildes Auge, eins vor jedem Fenster; das war der kleine Knabe und das kleine Mädchen. Er hieß Kay, und sie hieß Gerda. Im Sommer konnten sie mit einem Sprung zueinander gelangen, im Winter mussten sie erst die vielen Treppen herunter und die Treppen hinauf; draußen stob der Schnee.

"Das sind die weißen Bienen, die schwärmen", sagte die alte Großmutter.

"Haben sie auch eine Bienenkönigin?" fragte der kleine Knabe, denn er wusste, dass unter den wirklichen Bienen eine solche ist.

"Die haben sie", sagte die Großmutter. "Sie fliegt dort, wo sie am dichtesten schwärmen. Sie ist die Größte von allen, und nie bleibt sie still auf der Erde; sie fliegt wieder in die schwarzen Wolken hinauf. Manche Mitternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und dann frieren diese so sonderbar und sehen wie Blumen aus."

"Ja, das haben wir gesehen", sagten beide Kinder und wussten nun, dass es wahr sei.

"Kann die Schneekönigin hier herein kommen?" fragte das Mädchen.

"Lass sie nur kommen!" sagte der Knabe; "dann setze ich sie auf den warmen Ofen, und sie schmilzt."

Aber die Großmutter glättete sein Haar und erzählte andere Geschichten.

Am Abend, als der kleine Kay zu Hause und halb entkleidet war, kletterte er auf den Stuhl am Fenster und guckte durch das kleine Loch. Einige Schneeflocken fielen draußen, und eine, die größte, blieb auf dem Rand des einen Blumenkastens liegen. die Schneeflocke wuchs mehr und mehr und wurde zuletzt eine ganze Jungfrau, in den feinsten weißen Flor gekleidet, der aus Millionen sternartigen Flocken zusammengesetzt war. Sie war so schön und fein, aber von Eis, von blendendem, blinkendem Eis. Doch sie war lebendig; die Augen blitzten wie zwei klare Sterne, aber es war keine Ruhe und keine Rast in ihnen. Sie nickte dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhle herunter; da war es, als ob draußen vor dem Fenster ein großer Vogel vorbeiflöge.

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