Schneeflocken fallen, wandern mein Gesicht entlang um zu Boden zu sinken. Ich spüre ihre Kälte, ihre eisigen Griffe. Es schmerzt, doch der Schmerz tut gut, er lenkt ab.
Langsam schließe ich meine Augen, versuche dieses Gefühl festzuhalten, es zu umklammern. Das Gefühl der Kälte, das Gefühl von Schnee.
Du hast Schnee gemocht, die Kälte, das kühle Weiß. Es hat dich von deinen Schmerzen abgelenkt und heute verstehe ich wieso.
Vor wenigen Wochen hab ich dich von deinem Bett herausgeholt und dich durch die Gänge des Krankenhauses geschoben. Unser Ziel war die Terrasse im hintersten Teil, eigentlich gedacht für Raucher, doch es gab wenige die sich dorthin verirrten. Wir versuchten den Krankenschwestern aus dem Weg zu gehen, sie hätten es vermutlich verboten. Deine Augen leuchteten, nicht wie sonst, wenn wir dorthin auf dem Weg waren. Ich schob dich aus dem Gebäude und sofort hast du die Augen geschlossen und sie zum Himmel gerichtet. Es war der erste Schnee, das erste Mal in diesen Jahren. Du warst glücklich!
Ich mag keinen Schnee, ich mochte ihn nie. Doch heute kam er mir gelegen, es hätte dir gefallen. Sehr sogar.
Jemand legt mir seine Hand auf die Schultern, ich wusste wer es war, dennoch öffne ich meine Augen und schaue zurück. Mein Bruder blickte mich mit besorgten Augen an, eigentlich hatte ich ihn gebeten mitzukommen, doch es war kein guter Gedanke gewesen. Er kannte mich zu gut.
Seine braunen Augen fixierten mich, es war seltsam ihn so zu sehen. Er hatte seine braunen Rasterzöpfe aufgegeben und sich rasiert, statt seiner Hippiekleidung trug er einem Anzug mit einen schwarzen Mantel. Es war seltsam, auch er hatte sich verändert. Miles ist erwachsen geworden.
Ich wende meinen Blick von ihm ab, blicke wieder nach vorne. Der Priester hatte soeben seine Predigt begonnen. Er redete von Abschied, von einem Leben nach dem Tod.
Ich glaubte ihn nicht.
Wieder richte ich meinen Kopf nach oben, ich starre auf die Wolken und frage mich, ob es wirklich so etwas wie einen Gott gibt. Wenn ja, warum sollte er dann das alles zulassen?
Ich schüttle den Kopf über meine eigene Dummheit, ich habe nie an Gott geglaubt, warum sollte ich jetzt damit anfangen? Du warst anders, du glaubtest an ein Leben nach dem Tod und an Geister, die auf Erden wandeln, da sie noch etwas zu erledigen haben. Irgendwie hoffe ich, dass du recht hast.
Meine Finger klammern sich fester an das Buch, der Einband drückt sich in meine Handfläche. Ich fühle die Kälte, den Schmerz, doch ich weine nicht, meine Augen sind staubtrocken.
Du hast die Wette gewonnen und zahlst trotzdem dem Preis, es ist seltsam. So seltsam und ungerecht.
Ich höre deinen Vater schluchzen, er sollte nach vorne kommen, etwas sagen, doch er bleibt stehen. Kein Wort kommt über seine Lippen. Er zittert, Tränen laufen über seine Wangen. Ich will ihm helfen, doch auch ich bleibe stehen.
Liz stützt ihn, versucht ihm halt zu geben, vergeblich. Ein Mann neben ihm fängt ihn auf, er ist fertig, bricht in Tränen aus. Liz hingegen gab dem Priester ein Zeichen, damit er weitermachte.
Dieser nickte nur und sprach ein Gebet, ich höre nicht hin. Ich sehe nur auf die Holzkiste vor seinen Füßen. Ich kann nicht glauben, dass du da drin sein sollst. Es klingt wie eine Verschwörung, ich habe das Gefühl du lebst und kommst jeden Augenblick um die Ecke.
Doch du bist gestorben, du bist tot, du bist gegangen. Hast mich einfach alleine gelassen, einfach so. Wieso?
Ich erinnere mich noch, als du das erste Mal zu Boden gestürzt bist. Es war letzten Sommer, wir waren am Strand, du hast von mir Fotos gemacht und dabei gelächelt. Doch ich habe einen kurzen Moment nicht hingesehen, starrte hinaus aufs Meer und drehte mich dann wieder zu dir. Du lagst im Sand, dein Gesicht voraus und hast gezittert. Ich werde diesen Anblick niemals vergessen. Niemals. Ich hatte Angst, Angst vor diesem Moment. Im Krankenhaus versuchten sie mich zu beruhigen, sie redeten auf mich ein, doch ich schrie nur deinen Namen. Solange bis dein Vater ins Krankenhaus gestürmt kam und mir sagte, dass alles gut werden würde. Doch nichts ist wieder gut geworden.
Vor mir sehe ich dein Gesicht, als du mir versprochen hast wieder gesund zu werden. Du bist im Bett des Krankenhauses gelegen, fertig und kreidebleich. Doch du hast es mir versprochen, hoch und heilig. Du warst mein bester Freund. Wie sollte ich bloß ohne dich weiterleben?
Der Pfarrer schließt sein Buch und spricht noch ein paar Worte, bis der Sarg hinuntergelassen wird. Du gehst, endgültig. Dabei dachte ich wir hätten noch Zeit, ein Leben lang. Ich wünschte du wärst wieder hier.
Plötzlich rinnt mir doch eine Träne hinunter, sie kam unerwartet und traf mich hart. Wieso weine ich? Langsam kommt ein ganzer Schwall von Tränen, die mir heiß die Wange hinunterlaufen. Es schmerzt, es tut so weh. Lass mich nicht alleine!
Ich liebe dich!
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Schnee
Short StoryDie ersten Schneeflocken bahnen sich ihren Weg auf die Welt und legen eine weiße Schicht über die graue und trostlose Erde. Der kalte Winter löst den Herbst ab und mit dem Umschwung der Jahreszeiten ändert sich auch das Leben eines bestimmten Mädch...