Caitlyn

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"Ich krieg dich noch."

Fröhliches Kinderlachen wehte durch die geöffnete Terassentür, in das festlich geschmückte Wohnzimmer. Sanft lächelnd trat Sarah Thompson in den warmen Sonnenschein und beobachtete die Kleinen, wie sie rannten und tobten, sich gegenseitig versuchten zu fangen. Übermütig tapsten ihre kleinen Füßchen auf dem taunassen Gras umher. Hände patschten durch die Luft, getrieben von den Bemühungen endlich jemanden abschlagen zu dürfen.

Etwas abseits des ganzen Getümmels saß eines der Kinder, an einem extra für den Anlass aufgestellten Tischchen. Das kleine Mädchen hielt sich absichtlich aus den ruppigen Spielen der Anderen heraus. Zu groß war die Sorge, ihr kostbares Kleidchen könnte beschmutzt werden oder ihre kunstvoll hochgesteckten rotbraunen Haare mussten durch eine klebrige Hand an Volumen büßen.
Zu stolz war sie darauf an ihren Geburtstag keine Sandkastenhose tragen zu müssen.
Zu glücklich war sie, so aussehen zu dürfen, wie ihre Mutter, welche für die kleine Caitlyn Thompson die hübscheste Frau auf Erden war und selber mit Vorliebe Kleider trug.

Mit ihren großen blauen Augen sah sie bei dem Spiel zu. Wenn sie schon nicht mit machen konnte, dann wollte sie wenigstens eine gute Beobachterin sein. Große Freude bereitete ihr diese Tätigkeit nicht. Es war ein billiger Ersatz, der seinem Zweck nicht genügte.

Die restlichen Kinder schienen wirklich viel Spaß zu haben. Sie mussten sich schließlich nicht um die Sauberkeit eines neuen Kleidchens oder um das Aussehen ihrer Frisur Gedanken machen. Ein Großteil der Geburtstagsgäste waren nämlich Jungen, die sich gar freuten, wenn ihre Jeanshosen Löcher enthielten, damit sie sich später ausgedachte Geschichten erzählen konnten, die die Herkunft der Löcher erklärten. Geschichten von Drachen, mutigen Rittern und verborgenen Schätzen. Alles Lügen, dass wusste jeder. Doch wenn es darum ging den Mittagsschlaf im Kindergarten herum zu bekommen, hörten selbst die Mädchen zu.
Mit einem Seufzer rutschte Caitlyn von der Bank und trottete zur Tür. Diesen Geburtstag hatte sie sich jedenfalls anders vorgestellt. Wenn sie Glück hatte, würde keiner der Anwesenden ihr Fehlen bemerken. Vielleicht konnte sie dann noch ein bisschen malen, oder an ihrem Keyboard die neue Partitur durchgehen. Egal was sie machte, Hauptsache diese quälende Langeweile verschwand.
So leise, wie möglich, schlich sie sich hinter den Rücken ihrer Mutter, in das Wohnzimmer. Die erste Hürde war überwunden. Auf dem weichen Teppich, der am Boden ausgebreitet war, hielt sie wenige Minuten inne. Es sah hier so schön aus. Girlanden hingen von einer Ecke zur Anderen. Darüber waren bunte feinere Bändchen verteilt, wo bei ein paar bereits an der Erde lagen und sich mit dem Konfetti mischten.
An den Fenstern waren Klebebilder aufgehängt, die entweder Torten, Süßigkeiten und andere Leckereien zeigten oder die Aufschrift 'Happy Birthday' aufwiesen. Wenn die Sonne durchscheinen würde, hatte ihre Mutter gesagt, würden sie in allen Regenbogenfarben schimmern.

Stufe um Stufe erklomm das Mädchen nun die hölzerne Treppe auf der Flucht in ihr kleines Paradies. Noch niemand hatte sie aufgehalten und wieder nach draußen gebeten, ein persönlicher Erfolg, wie sie befand. Der blaue Flaumteppich, der oberen Etagen kam in Sicht. Das Ziel war zum Greifen nah.
Doch dann "Caitlyn! Wo willst du denn hin Schätzchen."
Wie eine unüberwindliche Gesteinswand stand der Vater vor dem Kind und versperrte Selbigen den Fluchtweg. Missmutig ließ Caitlyn ihre Schultern sinken. Auf den letzten Metern vom eigenen Vater erwischt. Das Leben war gewiss nicht fair.
Pflichtbewusst nahm der Mann seine Tochter an die Hand und führte sie wieder nach draußen. In seinen Augen war es unverständlich, dass man seine eigene Geburtstagsfeier verlassen wolle. Immerhin wurde solch ein Fest nur deshalb veranstaltet, um den Geburtstagkind eine Freude zu bereiten. Dann sollte man wenigstens den Anstand besitzen auch dort zu bleiben, um der Mühen, Rechnung zu tragen.
Wieder auf der Terrasse angelangt, konnte sich Caitlyn von dem Griff ihres Vaters befreien und stolperte auf die Rasenfläche.

Ruckartig riss ich meinen Kopf aus dem kalten Wasser, das vor mir in dem steinigen Becken lagerte.
Ich fand es zwar schön, dass meine Erinnerungen langsam zurückkehrten, aber musste es den ausgerechnet dann passieren, wenn sich Mund und Nase luftabgeschlossen im kühlen Nass befanden? Vermutlich wollte mich mein Schicksal doch noch so umbringen.
Mein Schicksal. Eins wie jedes andere auch, dennoch war es einzigartig.
Früher hatte die Menschheit nicht an das Wesen geglaubt, welches unser Leben bestimmte und uns auf den Weg begleitete. Es wurde als unnatürliche Kraft bezeichnet, als unberechenbare Variable gefürchtet. Ein denkendes, selbständig handelndes Wesen war es jedoch nie. Aber genau das machte es aus. Es lebte in einer Parallelwelt, geschützt von der Wut, Angst und Freude, der gesteuerten Lebewesen.
Manche von uns gaben ihm einen Namen. Andere wieder rum wollten nicht darüber reden. Sie wussten nun, dass es da war. Sie beobachtete. Jeden Schritt plante, analysierte und voraus ahnte. Und das machte ihnen Angst. Es bereitete ihnen schier Alpträume, zu wissen, dass nichts ohne Grund geschah, dass sie nichts daran ändern konnten.
Ich hatte einen Namen für mein Schicksal. Schließlich musste ich jemanden den ganzen Scherbenhaufen in die Schuhe schieben, der sich mein Leben nannte.
Und was einen Namen besaß, war ja bekanntlich schon immer realer.
Nathan.
So hieß mein Schicksalswesen.
Ab dem Tag, an dem ich 5 wurde, um genau zu sein.
Den dazugehörigen Geburtstag hatte mir Nathan beim letzten Mal vor Augen geführt, als der Erinnerungsnebel einsetzte. Ich war gerade im Wald gewesen, um frische Pilze zu sammeln, als der Schwindel mich übermannte. Wie ein Klappmesser, war mein Körper in sich zusammengesackt und auf dem harten Waldboden aufgekommen. Ich hatte mein glückliches Gesicht sehen dürfen, das Lachen meiner Familien vernehmen können. Diese Erinnerung war nun wieder Mein.
Nathan schien sich damals über seinen Namen gefreut zu haben, denn das Fest durfte ich trotz der Verletzung, die das erinnern mich gekostet hatte, unter den wenigen guten Ereignissen einspeichern, die in meinem Gehirn existierten. Ich wusste nie ob es die letzte sein würde. Mit jeder schlechten Rückblende nahm mir Nathan ein Stück der Hoffnung auf Selbige. So wie eben.

Immer noch leicht benommen griff ich nach dem kratzigen Handtuch, welches neben dem unansehnlichen Waschbecken hing. Ich drückte es mir auf das feuchte Gesicht. Der muffige Geruch des Tuches stieg mir augenblicklich in die Nase. Bei Gelegenheit sollte ich mir unbedingt ein Frischeres besorgen.
Angewidert warf ich den dreckigen Stoff in das Steinbecken. Toll. Jetzt verseuchte es sogar mein Wasser.
Schlürfend verließ ich mein improvisiertes Bad, bestehend aus eben dem Steinbecken und einem zerkratzten Spiegel, der garantiert schon mehrere Besitzer durchleben musste, bevor er zu mir kam. Ich steuerte auf das alte Sofa zu, auf das ich mich seufzend fallen ließ.
Staub stieg aus dem durchgesessenen Stoff hervor und verteilte sich im gesamten Raum. Ich gebe zu, mein jetziges Zuhause war nicht das Idealste. Aber es hatte das Nötigste, um nicht in der Kälte zu erfrieren oder in der Hitze zu verglühen. Außerdem diente es seinen eigentlichen Sinn, mich zu verstecken, perfekt. Die schäbige alte Hütte lag, verdeckt von Gesträuch und zwei mächtigen Tannen, in einem eher unbekannten Waldgebiet.
Bis jetzt war mir hier noch kein Mensch begegnet.
Jedeglich weiter im Norden hatte ich einzelne Gruppen von Bergsteigern gesichtet.
Sicher konnte ich mich trotzdem nicht fühlen. Sie hatten es schon mehr als einmal geschafft mich aufzuspüren.
Warum nicht auch dieses Mal?
Müde schloss ich kurzzeitig meine Augen, lehnte meinen schmerzenden Rücken gegen die harte Lehne des Sofas.
Das Zwitschern der Vögel schwirrte an meinen Ohren vorbei. Ebenso wie der kühle Wind, der durch die Ritzen der morschen Holzplanken drang. Ich begann zu frösteln und zog die löchrige Filzdecke, die neben mir lag, um meinen zitternden Körper.
Fest schnürte ich den wärmenden Stoff um mich.
Und wieder mal fragte sich meine innere Stimme, warum ich so was verdient hatte. Wie mein Leben so derartig abrutschen hatte können.
Mein Unterbewusstsein wusste die Antwort.
Nathan wollte es so.

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