Erster Teil - DDR, 1988 Jana 1.

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Ihr Herz klopfte in einem schnellen, nervösen Rhytmus, als sie das fremde, wuchtige Gebäude betrat. Ein Lächeln lag auf ihrem Mund, wie hastig aufgetragene Farbe von Lippenstift. Irgendwie verschmiert. Nicht besonders glaubwürdig. Sie hoffte bloß, dass man ihr ihre Unsicherheit nicht anmerkte. Sie war neu in der Schule und musste sich erst zurechtfinden. Den Blicken, den sie auf den Korridoren und in den Unterrichtsräumen trafen, wich sie nicht aus, erwiderte sie aber nur kurz. Die erste Überraschung, auf die sie zu Beginn der dritten Stunde stieß, war ein großer klebriger, offenbar frisch ausgespuckter Kaugummi. Sie fand ihn in dem Ablagefach unter dem Tisch, an dem sie saß.
Eigentlich hätte sie ihn gleich bemerken müssen - er duftete fruchtig-süß, irgendwie aufdringlich und gleichzeitig verführerisch. Also aus dem Westen, dachte sie. Die Ostkaugummis rochen eher nach nichts, jedenfalls wenn man sie länger als eine Minute gekaut hatte. Auch wurden sie im Mund schnell hart wie Holz. Und dieser hier war weich, beinahe schlapprig.
Sie hatte natürlich voll hineingefasst, als sie ein Schulbuch in das Fach legen wollte. Vorsichtshalber lächelte sie, als wäre nichts.
War das Absicht? Ein Wilkommensgeschenk für die Neue? Ihre Mundwinkel verzogen sich spöttisch.
Bild dir nichts ein, Jana.
Es war nur ein Kaugummi. Etwas Harmloses also. Etwas, das man in einem Klassenraum erwarten konnte. Warum war sie dann so nervös? Sie fühlte sich unbehaglich. Die vielen Blicke, die sie streiften, gingen ihr allmählich auf die Nerven.
Die Gänsehaut auf ihren Armen rührte allerdings daher, dass sie im T-Shirt in der letzten Reihe saß. Immerhin war sie so clever gewesen, vor Unterrichtsbeginn auf der Toilette die FDJ-Bluse auszuziehen, die ihre Mutter sie aufgezwungen hatte. "Es ist dein erster Schultag, Jana. Du willst bei deinen Lehrern doch nicht gleich unangemehm auffallen?"
Sie hatte den Kopf geschüttelt und sich gefügt. Jedenfalls scheinbar.
Natürlich saß hier niemand in FDJ-Hemd herum. Sie hätte sich zum Affen gemacht schon am ersten Tag. Sie wollte vor allem bei ihren Mitschülern nicht unangenehm auffallen.
In der Dorfschule, die sie bisher besucht hatte, war es üblich, jeden Montag im Blauhemd zu erscheinen und beim Fahnenapell vor der ersten Unterrichtsstunde mehr oder weniger gelungen strammzustehen. Jeden Montagmorgen hielt der grauhaarige Direktor die gleiche langweillige Rede. Immer ging es um den Sozialismus, der die großartigste Sache war, die es auf der Welt gab, mal abgesehen vom Kommunismus, der noch viel großartiger war, aber den mussten sie ja erst noch erreichen. Manche der Jungs aus der Neunten und Zehnten hielten die Augen geschlossen, schwankten in der letzten Reihe wie der Fahnenmast im Wind ind rochen noch auffällig nach dem Alkohol, den sie am Wochenende konsumiert hatten.
An ihrer neuen Schule schien man dieses Wochenanfangs-Ritual nicht zu kennen. Auch die Begrüßung "Freundschaft!" zu Beginn der Stunde klang so genuschelt, dass es genauso gut "Feindschaft" heißen konnte.
Würde sie hier Freunde oder Feinde finden?
Jana fühlte, wie sich ihre Schultern wie von selbst leicht hoben. Sie hatte bisher nie Probleme gehabt. Sie wurde akzeptiert von den anderen. Sie war eine gute Schülerin, die - wie die Lehrer sagten - "noch Reserven" besaß. Was nur bedeutete, dass sie nicht immer fleißig genug war. Genauer gesagt, dass man sie gelegentlich für faul hielt. Sie träumte manchmal lieber vor sich hin, statt Russisch-Vokabeln zu pauken. Ihre Gedanken gingen spazieren, öffneten die Tür des Klassenzimmers oder huschten einfach aus dem Fenster hinaus. Mit der Zeit gelang es ihr immer besser, da zu sein, sich zu melden, etwas in den Hefter zu schreiben und gleichzeitig in einem ihrer Tagträume zu versinken, in denen zunehmend auch Jungen mit grünblau schillernden Augen und mysteriösen Lächeln auftauchten. Jungen die es in Wircklichkeit nicht gab, jedenfalls nicht in der Wircklichkeit. Aber was nicht war, konnte ja noch werden.

Der Junge, der Jakob hieß, kam erst zur vierten Stunde. Er murmelte eine Entschuldigung und legte einen Zettel auf den Lehrertisch. Dann trabte er auf die letzte Reihe zu und blickte Jana erstaunt an.
"Sitz ich auf deinem Platz?" fragte sie unwillkürlich. Er schüttelte den Kopfund ließ sich mit einem Grinsen neben ihr nieder. Die Art, wie er sie musterte, gefiel ihr nicht.
"Kommst du jetzt öfterr?", flüsterte er.
"Sieht ganz so aus" flüsterte sie zurück. "Und du?"
Er lachte und zeigte ihr den Daumen.
Sie tat so, als bemerkte sie die Geste nicht, und rückte mit dem Stuhl ein Stück von ihm ab. Aber er kam ihr immer noch zu nah vor.
Mit dem Tagträumen imUnterricht war es jetzt wohl vorbei.
Nicht nur, weil ihr dieser Jakob mit seiner langen, hageren Gestalt und seinem struppigen Haarschopf die Sicht zu Fenster versperrte.
Irgendetwas Beunruhigendes ging von ihm aus.
Sie wusste nur noch nicht, was.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 04, 2016 ⏰

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