D R E I

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Es reicht! Wir leiden alle und du tust so als wäre jemand gestorben!"
Ich höre Geschrei bevor ich überhaupt die Tür aufschließe.
Eric ist zu Hause und in letzter Zeit streitet er sich oft mit Mama. Ich finde es nicht gut, aber ich greife auch nicht immer ein, da auch ich finde, dass Mama sich mehr anstrengen sollte, aber manchmal ging er zu weit. Sie ist immerhin unsere Mutter.
Ich gehe in die Küche und lege die Einkäufe ab.
Ich höre Mama weinen und Eric in die Wand eintreten.
Ich stürme in das Wohnzimmer und versuche ihn zu beruhigen.
„Eric! Es reicht. Geh raus. Geh frische Luft schnappen. Lass mich das machen", ich fasse in an die Schulter und schaue ihn an.
Er schaut mich an, Tränen in den Augen und nickt.
Ich drehe mich zu Mama, die immer noch weint und warte darauf das Geräusch der sich schließenden Tür zu hören. Als es ins Schloss fällt, gehe ich zu ihr und lege meine Arme um ihre Schultern.
Die ganze Zeit rede ich mir ein, dass sie meine Mutter ist und sie Zeit braucht.
„Ich - ich glaube er - er hasst mich, Jen", schluchzt sie und wischt sich ihre Nase an ihrem Ärmel ab.
Ich will nicht sagen dass sie falsch liegt, denn dann würde ich sie anlügen.
„Geh schlafen Mama, heute war ein langer Tag."
Ich streichele ihr die Haare aus dem verweintem Gesicht und küsse sie auf den Kopf. Ihre Haare riechen leicht nach Himbeeren. Wenigstens ist sie jetzt sauber.
Ich stehe auf und halte ihr die Hand hin um sie nach oben, zu ihrem Bett zu begleiten.
„Nein Schatz, lass mich hier unten schlafen."
Ich nicke und will nicht weiterhin mit ihr diskutieren und lasse sie endlich schlafen.
Sie schläft schnell ein und ich lege eine Decke um sie.
Mein Herz schwillt an, da sie mich so sehr an früher erinnert, sorgenfrei und friedlich.

Ich öffne meinen Laptop und stelle ihn auf den Küchentresen ab, gebe in die Suchleiste „schnelle und einfache Rezepte" ein und öffne noch eine Seite mit allen wichtigen Merkmalen und Informationen über Enzyme. Ich muss mich dieses Schuljahr wirklich anstrengen, wenn ich einen guten Abschluss bekommen will. Ich möchte erfolgreich sein und etwas großes mit meinem Leben anfangen. Vielleicht sogar Medizin oder Jura studieren...? Eric erhofft sich ein Stipendium durchs Schwimmen, vielleicht auch eine Karriere, Olympia zum Beispiel.

Die Zwiebeln in der Pfanne fangen an leicht zu riechen und zischen. Ich rühre sie verträumt um und mir fällt ein, dass ich morgen vor der Mittagspause wieder Biologie habe und ich freue mich. Nicht auf den Unterricht, aber auf Amelia. Ich hab das Gefühl, dass sie es gut mit mir meint. Eigentlich meint es ja niemand böse mit mir, ich bin einfach unsichtbar. Aber besser unsichtbar und unscheinbar als schikaniert zu werden. Das würde ich nämlich nicht aushalten. Ich will Konfrontationen und Streitigkeiten so gut wie möglich vermeiden, ich halte es ja kaum aus, wenn Mama und Eric diskutieren.

Aber das muss sein. Unsere Lage ist nicht mehr normal. Eigentlich ist Mama körperlich gesund - psychisch scheint sie es nicht zu sein, aber auf eine psychologische Evaluation will sie sich nicht einlassen. Ich hab das Gefühl, dass sie lieber in ihrem Selbstmitleid versinken will. Bevor Papa sie verlassen hat, war sie so gut zu uns, ich weiß gar nicht mehr wie sich das anfühlt. Das einzige was ich fühle, wenn ich an früher denke ist Sehnsucht. Aber ich sehne mich nicht nach allem. Früher lag ich oft weinend im Bett und betete zu lautem Geschreie meiner Eltern zu Gott und wünschte mir, dass sich etwas ändern würde und Er Papa aus unserer Familie entfernen sollte. Mir war es recht wie. Die Leute irren sich - Gott hört unseren Gebeten zu, doch alles hat seinen Preis und ich weiß nicht ob mein Wunsch seinen Preis wert war. Denn seit dem Mama verlassen wurde und mein Wunsch erfüllt wurde, sind die Konsequenzen und Mamas Verhalten unerträglich. Ich würde mich gerne selbst aus der Welt entfernen, doch das wäre der Untergang dieser Familie - zumindest von der Familie, die noch übrig bleibt. Heute mache ich mich oft für unsere Situation und Mamas Verhalten schuldig. Ich habe es mir so gewünscht und es ist in Erfüllung gegangen. Deswegen nehme ich die Konsequenzen still auf mich. An anderen Tagen könnte ich weinen und schreien bis die Wohnung zusammenbricht.

Das zuknallen der Tür unterbricht meine Vorbereitungen für die nächste Biologiestunde und meine Gedanken. Es ist Eric, er ist zurück von seinem stundenlangen Spaziergang. Ich habe gar nicht gemerkt, dass es schon dunkel und fast Mitternacht ist. Das Essen steht unberührt auf dem Tisch und wartet darauf gegessen zu werden. Eric guckt mich mit glasigen Augen traurig an und wischt sich mit seiner blutverschmierten Hand die Haare aus dem Gesicht. Ich will gar nichts hören, gar nicht wissen was er angestellt hat. Der Anblick der aufgeschlagenen Hand reicht mir. Ich hole ein feuchtes Tuch, Verbandszeug und deute auf den Stuhl.

Ohne irgendein Wort verbinde ich seine Hand und stelle einen Teller vor ihn hin. Manchmal fühle ich mich wie die Älteste oder die Mutter im Haus. Dabei bin ich keines von beidem. Meine Mutter schläft im Nebenzimmer auf dem Sofa - frisch geduscht, Gott sei Dank - und der Ältere von uns beiden - 4 Minuten - geht raus und schlägt sich die Hände wund und blutig.

Eric hilft mir beim aufräumen und unser wortloser Abend endet. Bevor er oben in seinem Zimmer verschwindet küsst er mich auf die Wange und sagt „Danke für alles."

Und so endet ein ganz normaler Tag bei uns, mit allem drum und dran, Höhen und Tiefen.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 24, 2018 ⏰

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Das große schwarze LochWo Geschichten leben. Entdecke jetzt